Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
Vom Netzwerk:
Lord, im Moment nicht.«
    »Dann ist es beschlossen!«, sagte Lord Wellington. »Mr. Strange, Oberst De Lancey und Major Grant kümmern sich um das Auffinden der Kanonen. Somerset und ich werden losziehen und die Franzosen ärgern.« Die knappe Art, in der Seine Lordschaft sprach, ließ darauf schließen, dass er davon ausging, dass all diese Dinge sehr bald erledigt wären. Strange und die Herren aus dem Stab schluckten den Rest ihres Frühstücks hinunter und machten sich an ihre Aufgaben.
    Gegen Mittag befanden sich Lord Wellington und Fitzroy Somerset zu Pferde auf einer kleinen Anhöhe in der Nähe des Dorfes Garcia Hernandez. Auf der steinigen Ebene, die vor ihnen lag, bereiteten sich mehrere Brigaden der britischen Dragoner darauf vor, ein paar Kavallerieschwadrone anzugreifen, die die Nachhut der französischen Armee bildeten.
    Just in diesem Moment kam Oberst De Lancey angeritten.
    »Ah, Oberst«, sagte Lord Wellington. »Haben Sie ein paar Neapolitaner für mich gefunden?«
    »Unter den Gefangenen gibt es keine Neapolitaner, mein Lord«, sagte De Lancey. »Aber Mr. Strange schlug vor, unter den Toten auf dem Schlachtfeld von gestern nachzusehen. Mit Hilfe der Zauberei konnte er siebzehn Leichen als Neapolitaner identifizieren.«
    »Leichen!«, sagte Lord Wellington und setzte überrascht sein Fernrohr ab. »Was, um alles in der Welt, will er mit Leichen anstellen?«
    »Das haben wir ihn auch gefragt, mein Lord, aber er wich aus und gab uns keine Antwort. Auf jeden Fall bat er darum, die toten Männer an einen sicheren Ort zu bringen, an dem sie weder verloren gehen noch beschädigt werden können.«
    »Nun, vermutlich soll man keinen Zauberer in Dienst nehmen und sich dann beschweren, dass er sich nicht benimmt wie andere Leute«, sagte Wellington.
    In diesem Moment rief ein Offizier, der in der Nähe stand, mit lauter Stimme, dass die Dragoner in Galopp gefallen waren und die Franzosen bald einholen würden. Das absonderliche Verhalten des Zauberers war umgehend vergessen; Lord Wellington setzte das Fernrohr wieder ans Auge, und jeder der Anwesenden wandte seine Aufmerksamkeit der Schlacht zu.
    Strange war inzwischen vom Schlachtfeld auf die Burg in Alba de Tormes zurückgekehrt. Im Waffenturm (dem einzigen Teil der Burg, der noch stand) hatte er einen Raum gefunden, der von niemandem benutzt wurde, und ihn in Beschlag genommen. Im Raum verstreut lagen Norrells vierzig Bücher. Sie waren alle noch intakt, wenn auch so manche ziemlich angeschlagen aussahen. Der Boden war bedeckt von Stranges Notizbüchern und Papieren mit Spruchfragmenten und dahingekritzelten zauberischen Berechnungen. Auf einem Tisch in der Mitte des Raums stand eine große flache Silberschale, die mit Wasser gefüllt war. Die Fensterläden waren fest verschlossen, und das einzige Licht im Raum kam aus der Silberschale. Alles in allem war es eine wahrhaftige Zauberhöhle, und das hübsche spanische Mädchen, das in regelmäßigen Abständen Kaffee und Mandelkekse brachte, fürchtete sich entsetzlich und rannte jedes Mal eilig hinaus, sobald sie das Tablett abgesetzt hatte.
    Ein Offizier von den 18. Husaren namens Whyte war eingetroffen, um Strange zu assistieren. Hauptmann Whyte hatte einige Zeit in der britischen Botschaft in Neapel verbracht. Er war sprachbegabt und verstand den neapolitanischen Dialekt perfekt.
    Strange hatte keine Schwierigkeiten, Visionen heraufzubeschwören, doch genau wie er vorhergesagt hatte, gaben die Visionen kaum Aufschluss darüber, wo die Männer sich aufhielten. Die Kanonen waren, wie er herausfand, hinter ein paar hellen Felsen versteckt – die Art von Felsen, wie sie auf der gesamten Halbinsel überall vorkamen –, und die Männer lagerten in einem kargen Waldgebiet, das aus Olivenbäumen und Pinien bestand – die Art von Waldgebiet, wie man sie sah, wenn man den Blick in eine beliebige Richtung schweifen ließ.
    Hauptmann Whyte stand neben Strange und übersetzte alles, was die Neapolitaner sagten, in klares, verständliches Englisch. Doch obwohl sie den ganzen Tag in die Silberschale starrten, erfuhren sie nur sehr wenig. Wenn ein Mann eineinhalb Jahre lang Hunger hat, wenn er seine Frau oder seine Verlobte seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hat, wenn er die letzten vier Monate nur auf der nackten Erde und Steinen geschlafen hat, dann ist seine Fähigkeit, sich zu unterhalten, in der Regel ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Die Neapolitaner hatten sich wenig zu sagen, und das, was sie sagten,

Weitere Kostenlose Bücher