Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
Vom Netzwerk:
– ja, wahrscheinlich spürten sie ihn gar nicht –, daher kostete es sie wenig Mühe, die Fesseln abzustreifen, auch wenn sie Teile von sich zurücklassen mussten. Sobald sie frei waren, suchten sie Strange auf und flehten ihn auf Mitleid erregendste Weise an, sie ins echte Leben zurückzuholen. Sie hatten die Hölle gesehen und verspürten keinen Drang, dorthin zurückzukehren.
    Der spanische Künstler Francisco Goya fertigte in Madrid eine Rötelzeichnung von Jonathan Strange an, wie er von den toten Neapolitanern umringt wird. Auf dem Bild sitzt Strange auf dem Boden. Sein Blick ist gesenkt, seine Arme hängen schlaff herunter, und seine ganze Haltung drückt Hilflosigkeit und Verzweiflung aus. Die Neapolitaner kauern um ihn; einige blicken ihn hungrig an; anderen steht das Flehen ins Gesicht geschrieben; einer hat einen Finger tastend ausgestreckt, um ihm übers Haar zu streichen. Man muss wohl kaum betonen, dass diese Darstellung in großem Unterschied zu allen anderen Porträts von Strange steht.
    Am 25. August befahl Lord Wellington, die toten Neapolitaner zu vernichten. 74
    Strange war sehr darauf bedacht, dass Mr. Norrell nichts von dem Zauber erfuhr, den er in der verfallenen Kirche in Flores de Avila vollführt hatte. Er erwähnte ihn in keinem seiner Briefe und bat Lord Wellington dringend, ihn nicht in seine Meldungen aufzunehmen.
    »In Ordnung«, sagte Seine Lordschaft. Er war ohnehin nicht besonders erpicht darauf, über Zauberei zu schreiben. Er beschäftigte sich ungern mit Dingen, mit denen er sich nicht besonders gut auskannte. »Aber es wird nicht viel nützen«, erklärte er. »Jeder, der in den letzten fünf Tagen einen Brief nach Hause geschrieben hat, wird ausführlich darüber berichtet haben.«
    »Ich weiß«, sagte Strange voll Unbehagen. »Aber die Männer übertreiben immer, wenn sie beschreiben, was ich tue, und wenn die Leute in England von den üblichen Ausschmückungen absehen, wird ihnen der Zauber vielleicht nicht mehr so bemerkenswert vorkommen. Sie werden sich lediglich vorstellen, dass ich ein paar verwundete Neapolitaner geheilt habe oder so.«
    Die Erweckung der siebzehn toten Neapolitaner war ein gutes Beispiel für die Art von Problem, mit der Strange in der zweiten Hälfte des Krieges konfrontiert war. Wie vor ihm die Minister, so gewöhnte sich auch Lord Wellington immer mehr daran, Zauberei zu benutzen, um seine Ziele zu erreichen, und er erwartete von seinem Zauberer zunehmend ausgefallenere Dinge. Doch im Gegensatz zu den Ministern hatte Wellington wenig Zeit oder Muße, sich lange Erklärungen darüber anzuhören, warum etwas unmöglich war. Schließlich verlangte er seinen Pionieren, seinen Generälen und seinen Offizieren regelmäßig das Unmögliche ab und sah keinen Grund, warum er seinen Zauberer davon ausnehmen sollte. »Finden Sie eine andere Möglichkeit« war alles, was er zu sagen pflegte, wenn Strange versuchte, ihm zu erklären, dass dieser oder jener Zauber seit 1302 nicht mehr ausprobiert worden war – oder dass der Spruch dazu verloren gegangen war oder dass es diese Zauberei überhaupt nie gegeben hatte. Wie in den frühen Tagen als Zauberer, bevor er Mr. Norrell getroffen hatte, war Strange gezwungen, die meisten seiner Zauberstücke zu erfinden, indem er mit allgemeinen Grundsätzen und halb erinnerten Geschichten aus alten Büchern arbeitete.
    Im Frühsommer 1813 wandte Strange noch einmal einen Zauber an, der in dieser oder ähnlicher Form seit den Tagen des Rabenkönigs nicht mehr betrieben worden war: Er versetzte einen Fluss. Und das geschah so: In diesem Sommer verlief der Krieg gut, und alles, was Lord Wellington anfasste, war von Erfolg gekrönt. Dennoch passierte es eines Morgens im Juni, dass die Franzosen sich in einer vorteilhafteren Lage befanden als noch einige Zeit zuvor. Seine Lordschaft und die anderen Generäle versammelten sich umgehend, um darüber zu diskutieren, wie man diese höchst unerwünschte Situation ändern könnte. Strange wurde aufgefordert, sich zu ihnen in Lord Wellingtons Zelt zu begeben. Er fand sie um einen Tisch versammelt vor, auf dem eine große Landkarte ausgebreitet war.
    Seine Lordschaft war in diesem Sommer in wirklich glänzender Laune und grüßte Strange beinahe herzlich. »Ah, Merlin! Da sind Sie ja! Hier ist unser Problem. Wir sind auf dieser Seite des Flusses und die Franzosen auf der anderen, und es wäre mir lieber, die Positionen wären vertauscht.«
    Einer der Generäle begann zu erklären,

Weitere Kostenlose Bücher