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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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sind kalt.« Dann drehte er sich um und verließ die Kirche.
    Wellingtons Stab sah ihm neugierig nach. »Wissen Sie«, sagte Fitzroy Somerset, »ich frage mich wirklich die ganze Zeit, was er mit siebzehn Leichen vorhat.«
    »Was auch immer es ist«, sagte Wellington, tauchte die Feder in die Tinte und begann einen Brief an die Minister in London zu schreiben. »Er genießt den Gedanken daran nicht. Er tut alles, um es zu vermeiden.«
    In dieser Nacht führte Strange einen Zauber aus, den er bisher noch nie ausgeführt hatte. Er versuchte, in die Träume der neapolitanischen Kompanie einzudringen. Es gelang ihm perfekt.
    Ein Mann träumte, dass er von einer böswilligen gebratenen Lammhaxe einen Baum hinaufgejagt wurde. Er saß in dem Baum und schluchzte vor Hunger, während die Lammhaxe immer wieder um den Baum lief und drohend ihren Knochen gegen ihn richtete. Kurz darauf gesellten sich fünf oder sechs gehässige hart gekochte Eier zur Lammhaxe und flüsterten sich die schrecklichsten Lügengeschichten über ihn zu.
    Ein zweiter Mann träumte, dass er seine tote Mutter traf, während er durch ein Wäldchen lief. Sie erzählte ihm, sie habe soeben in einen kleinen Kaninchenbau geschaut und am Ende der Höhle Napoleon Buonaparte, den König von England, den Papst und den Zaren von Russland gesehen. Der Mann stieg in den Kaninchenbau, um nachzusehen, doch als er unten ankam, stellte er fest, dass Napoleon Buonaparte, der König von England, der Papst und der Zar von Russland ein und dieselbe Person waren, nämlich ein riesiger plärrender Mann, so groß wie eine Kirche und mit Zähnen aus rostigem Eisen und Augen aus brennenden Rädern. »Ha«, feixte das Ungeheuer, »du hast doch nicht geglaubt, dass wir wirklich verschiedene Leute sind, oder?« Und es griff in einen blubbernden Hexenkessel, der neben ihm stand, holte den kleinen Sohn des Träumenden heraus und aß ihn auf. Kurzum: Die Träume der Neapolitaner waren zwar interessant, aber nicht sehr erhellend.
    Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr saß Lord Wellington an einem provisorischen Schreibtisch, der im Altarraum der verfallenen Kirche stand. Er blickte auf und sah, wie Strange die Kirche betrat. »Nun?«, fragte er.
    Strange seufzte und sagte: »Wo ist Feldwebel Nash? Ich brauche ihn, damit er die Toten herausbringt. Mit Ihrer Erlaubnis, mein Lord, werde ich einen Zauber ausprobieren, von dem ich einmal gehört habe.« 72
    Die Nachricht, dass der Zauberer etwas mit den toten Neapolitanern vorhatte, verbreitete sich rasch im Hauptquartier. Flores de Avila war ein winziger Ort, der aus kaum mehr als hundert Hütten bestand. Der vorangegangene Abend hatte für eine Armee von jungen Männern, die soeben einen großen Sieg errungen hatten und nun feiern wollten, ziemlich langweilig geendet. Man hielt es für wahrscheinlich, dass Stranges Zauberei die beste Unterhaltung des Tages bieten würde. Bald versammelte sich eine kleine Gruppe aus Offizieren und anderen Männern, die zusehen wollten.
    Die Kirche verfügte über eine steinerne Terrasse, von der aus man auf das gesamte Tal und die Silhouette der blassen, hoch aufragenden Berge blickte. Die Hänge waren mit Weingärten und Olivenhainen bedeckt. Feldwebel Nash und seine Männer holten die siebzehn Leichen aus dem Glockenturm und lehnten sie in sitzender Stellung gegen eine niedrige Mauer, die die Terrasse begrenzte.
    Strange schritt die Reihe ab und sah sich jede Leiche einzeln an. »Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt«, wandte er sich an Nash, »dass ich darauf bestehe, dass sich niemand an den Leichen zu schaffen macht.«
    Nash war entrüstet. »Ich bin sicher, Sir«, sagte er, »dass keiner unserer Leute sie angefasst hat. Aber, mein Lord«, sagte er an Lord Wellington gewandt, »es gab kaum eine Leiche auf dem Schlachtfeld, die nicht von diesen unausgebildeten spanischen Soldaten verstümmelt worden wäre...« Er ließ sich ausführlich über die verschiedenen nationalen Schwächen der Spanier aus und schloss mit der Bemerkung, ein Mann würde es beim Aufwachen bereuen, wenn er sich an einem Ort zum Schlafen gelegt hätte, wo die Spanier ihn finden konnten.
    Lord Wellington winkte ungeduldig ab, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ich habe nicht den Eindruck, dass sie sehr verstümmelt sind«, sagte er zu Strange. »Macht es etwas, wenn sie ein paar Schrammen haben?«
    Strange murmelte trübsinnig, dass es nichts machte, aber er müsse sie sich ansehen.
    Tatsächlich schienen die meisten Neapolitaner durch

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