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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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gesandt, mit dem Vorschlag, dass ich eine Meerjungfrau heirate und so dem Streit zwischen unseren großen Nationen ein Ende setze...«
    Das andere Thema, das Seine Majestät beschäftigte, war die silberhaarige Person, die nur er sehen konnte. »Er sagt, er sei ein König«, flüsterte er Strange beflissen zu, »aber ich glaube, er ist ein Engel. Mit so viel Silberhaar halte ich das für sehr wahrscheinlich. Und diese zwei bösen Geister – mit denen Sie gesprochen haben –, die hat er ganz fürchterlich beschimpft. Ich glaube, dass er gekommen ist, um sie zu packen und in eine Feuergrube zu werfen. Und dann, daran besteht kein Zweifel, wird er Sie und mich in die Herrlichkeit von Hannover forttragen.«
    »Himmel«, sagte Strange. »Majestät meinen die Herrlichkeit des Himmels.«
    Sie gingen weiter. Schnee begann zu fallen, ein langsames weißes Schweben über einer fahlen grauen Welt. Es war vollkommen still.
    Plötzlich war Flötenspiel zu hören. Die Musik klang unaussprechlich traurig und düster, aber zugleich sehr würdevoll.
    In dem Glauben, dass der König spielte, wandte sich Strange ihm zu, um ihm dabei zuzusehen. Aber der König stand mit hängenden Armen und der Flöte in der Tasche da. Strange schaute sich um. Der Nebel war nicht dicht genug, um jemanden zu verbergen, der sich in ihrer Nähe aufgehalten hätte. Es war niemand da. Der Park war menschenleer.
    »Ah, hören Sie nur!«, rief der König. »Er schildert die Tragödie des Königs von Großbritannien. Diese Tonfolge da! Sie gilt der verlorenen Macht. Diese melancholische Phrase! Sie steht für seine Vernunft, die von hinterhältigen Politikern und den schändlichen Taten seiner Söhne zerstört wurde. Diese kleine Melodie, die einem das Herz brechen könnte – sie verweist auf das schöne junge Geschöpf, das er als Junge liebte und unter dem Zwang seiner Freunde aufgeben musste. Oh Gott! Wie er damals geweint hat.«
    Tränen flossen über das Gesicht des Königs. Er begann einen getragenen ernsten Tanz aufzuführen, neigte sich zur Seite, streckte die Arme aus und drehte sich langsam im Kreis. Die Musik entfernte sich, wich tiefer in den Park zurück, und der König folgte ihr tanzend.
    Strange war verwirrt. Die Musik schien den König zu einem Wäldchen zu locken. Strange vermutete zumindest, dass es ein Wäldchen war. Er war sich nahezu sicher, dass er vor einem Augenblick noch ein Dutzend Bäume gesehen hatte – möglicherweise weniger. Aber jetzt war das Wäldchen zu einem Dickicht geworden, nein, zu einem Wald, einem tiefen dunklen Wald mit alten wildwüchsigen Bäumen. Ihre riesigen Äste ähnelten verdrehten Gliedmaßen und ihre Wurzeln glichen Schlangennestern. Sie waren dicht mit Efeu und Misteln bewachsen. Zwischen den Bäumen führte ein schmaler Pfad hindurch; er war mit tiefen, vereisten Löchern übersät und von froststeifem Unkraut gesäumt. Fahle Nadelstiche aus Licht tief im Wald wiesen auf ein Haus hin, wo kein Haus sein sollte.
    »Majestät!«, rief Strange. Er lief dem König nach und fasste ihn bei der Hand. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Majestät, aber der Wald gefällt mir nicht. Ich glaube, es wäre besser, wenn wir zum Schloss zurückkehrten.«
    Der König war ganz hingerissen von der Musik und wollte nicht gehen. Er grummelte vor sich hin und befreite seine Hand aus Stranges Griff. Strange fasste erneut nach ihm und führte ihn halb zum Tor zurück, halb zerrte er ihn.
    Aber der unsichtbare Flötenspieler schien nicht geneigt, sie so einfach aufzugeben. Die Musik wurde plötzlich lauter; sie erklang von allen Seiten. Eine zweite Melodie schlich sich unmerklich in die erste und verschmolz mit ihr.
    »Ah! Hören Sie! Hören Sie doch!«, rief der König und drehte sich um. »Jetzt spielt er für Sie. Die harschen Töne stehen für Ihren bösen Lehrer, der Sie nicht lehren will, was zu lernen Sie jedes Recht haben. Diese Misstöne beschreiben Ihren Zorn, weil man Sie daran hindert, neue Entdeckungen zu machen. Und dieser langsame, traurige Marsch gilt der großartigen Bibliothek, die er Ihnen aus reinem Eigennutz vorenthält.«
    »Woher um alles in der Welt...«, setzte Strange an und hielt dann inne. Auch er hörte sie – die Musik, die sein Leben beschrieb. Zum ersten Mal wurde er gewahr, wie traurig sein Leben war. Er war umgeben von niederträchtigen Männern und Frauen, die ihn hassten und ihn insgeheim um sein Talent beneideten. Er wusste jetzt, dass jeder zornige Gedanke, den er je gedacht hatte,

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