Jonathan Strange & Mr. Norrell
Einzelhaft gehalten wurde, und er zählte die Zaubereien auf, die er betrieben hatte. Aber den Wasserangriff auf die Willise, den Zauberwald und den unsichtbaren Flötenspieler erwähnte er mit keinem Wort.
»Mich überrascht überhaupt nicht, dass Sie Seiner Majestät nicht helfen konnten«, sagte Mr. Norrell. »Nicht einmal die Aureatischen Zauberer konnten Wahnsinn kurieren. Vielleicht haben sie es auch gar nicht versucht. Sie scheinen Wahnsinn in einem ganz anderen Licht betrachtet zu haben. Sie verehrten Verrückte und glaubten, dass sie Dinge wüssten, die gesunde Menschen nicht wissen – Dinge, die einem Zauberer nützlich sein könnten. Sowohl von Ralph Stokesey als auch von Catherine von Winchester heißt es, dass sie sich bisweilen mit Verrückten beraten haben.«
»Aber gewiss nicht nur Zauberer?«, sagte Strange. »Auch Elfen haben sich für Wahnsinnige interessiert. Ich meine mich zu erinnern, das irgendwo gelesen zu haben.«
»So ist es! Einige unserer wichtigsten Autoren verweisen auf die starke Ähnlichkeit zwischen Verrückten und Elfen. Beide reden ohne Sinn und Zusammenhang – ich nehme an, dass Ihnen das auch beim König aufgefallen ist. Aber es gibt noch andere Ähnlichkeiten. Chaston hat, soweit ich mich erinnere, einiges dazu zu sagen. Er führt das Beispiel eines Verrückten in Bristol an, der seine Familie jeden Morgen davon in Kenntnis setzte, dass er seinen Spaziergang in Begleitung eines Esszimmerstuhls machen wollte. Der Mann war diesem Möbelstück sehr ergeben, betrachtete es als einen seiner besten Freunde, unterhielt sich damit über den Spaziergang, den sie machen würden, und die Wahrscheinlichkeit, unterwegs weitere Tische und Stühle zu treffen. Offenbar wurde er sehr niedergeschlagen, wann immer sich jemand auf den Stuhl setzen wollte. Der Mann war eindeutig verrückt, aber Chaston sagt, dass Elfen sein Verhalten nicht so lächerlich finden würden wie wir. Elfen unterscheiden nicht wirklich zwischen dem Belebten und dem Unbelebten. Sie glauben, dass Steine, Türen, Bäume, Feuer, Wolken und so weiter Seelen und Begierden haben und entweder weiblich oder männlich sind. Vielleicht erklärt das die außergewöhnliche Sympathie der Elfen für Verrückte. So war es zum Beispiel einst wohl bekannt, dass Wahnsinnige Elfen oft selbst dann sehen konnten, wenn sie sich für alle anderen unsichtbar machten. Das bekannteste Beispiel, an das ich mich erinnere, war im vierzehnten Jahrhundert ein verrückter Junge namens Duffy aus Chesterfield in Derbyshire. Er war der Liebling eines boshaften Elfen, der die Stadt seit Jahren tyrannisierte. Der Elf schloss den Jungen ins Herz und machte ihm extravagante Geschenke – mit den meisten hätte er nichts anfangen können, auch wenn er bei Verstand gewesen wäre, und in seinem Wahn konnte er sie erst recht nicht gebrauchen –, ein mit Diamanten besetztes Segelboot, ein Paar silberne Stiefel, ein singendes Schwein...«
»Aber warum bedachte der Elf Duffy mit diesen Aufmerksamkeiten?«
»Oh, er erzählte Duffy, sie wären Brüder im Unglück. Ich weiß nicht, warum. Chaston schreibt, dass viele Elfen das vage Gefühl hatten, von den Engländern schlecht behandelt worden zu sein. Chaston wie mir ist es ein Rätsel, warum sie das dachten. In den Häusern großer englischer Zauberer waren sie die Ersten unter den Dienstboten und saßen nach dem Zauberer und seiner Frau auf den besten Plätzen. Chaston hat viel Interessantes zu diesem Thema zu sagen. Sein bestes Werk ist Liber Novus.« Mr. Norrell sah seinen Schüler stirnrunzelnd an. »Ich glaube, ich habe es Ihnen mindestens ein halbes Dutzend Mal empfohlen«, fuhr er fort. »Haben Sie es immer noch nicht gelesen?«
Leider erinnerte sich Mr. Norrell nicht immer mit absoluter Genauigkeit, welche Bücher Strange lesen sollte und welche er nach Yorkshire geschickt hatte, um sie Strange vorzuenthalten. Das Liber Novus lag sicher in einem Bücherschrank der Bibliothek von Hurtfew Abbey. Strange seufzte und sagte, dass er es von Herzen gern auf der Stelle lesen würde, wenn Mr. Norrell es ihm nur gäbe. »Aber in der Zwischenzeit könnten Sie vielleicht so gut sein und die Geschichte des Elfen von Chesterfield zu Ende erzählen, Sir.«
»Oh ja. Wo war ich stehen geblieben? Jahrelang ging es Duffy gut, und in der Stadt ging alles schief. Auf dem Marktplatz wuchs ein Wald, und die Menschen konnten ihren Geschäften nicht länger nachgehen. Ihren Ziegen und Schweinen wuchsen Flügel, und sie flogen
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