Jonathan Strange & Mr. Norrell
kauften Sommerhäuser, und Hampstead wurde bald, was es heute ist: einer der beliebtesten Erholungsorte der eleganten Londoner Gesellschaft. In erstaunlich kurzer Zeit wurde aus dem ländlichen Dorf ein Ort von respektabler Größe – nahezu eine kleine Stadt.
Zwei Stunden, nachdem sich Sir Walter, Oberstleutnant Grant, Oberst Manningham und Jonathan Strange mit dem Herrn aus Nottinghamshire gestritten hatten, traf auf der Straße von London her eine Kutsche in Hampstead ein und bog in eine dunkle Gasse ein, die von Holunder–, Flieder- und Weißdornbüschen überschattet wurde. Die Kutsche hielt vor einem Haus am Ende der Gasse, und Mr. Drawlight entstieg ihr.
Das Haus war einst ein Bauernhaus gewesen, aber in den letzten Jahren war es umgebaut und verschönert worden. Die kleinen Fenster – vor allem gedacht, Kälte fern zu halten, und weniger, Licht einzulassen – waren vergrößert worden; ein Portikus mit Säulen ersetzte die gemeine Bauernhoftür; wo einst der Hof gewesen war, befanden sich jetzt Blumenbeete, Sträucher und Rasenflächen.
Mr. Drawlight klopfte an die Tür. Ein Dienstmädchen öffnete ihm und führte ihn sofort in einen Salon. Der Raum musste einst die gute Stube des Bauernhofs gewesen sein, aber alle Anzeichen seines ursprünglichen Aussehens waren unter teuren französischen Tapeten, persischen Teppichen und eleganten englischen Möbeln neuester Machart verschwunden.
Drawlight musste nur ein paar Minuten warten, bis eine Dame das Zimmer betrat. Sie war groß, von angenehmer Gestalt und schön. Sie trug ein Kleid aus rotem Samt, und ihr weißer Hals wurde von einer verschlungenen Kette aus Jet umspielt.
Durch die offene Tür sah er auf der anderen Seite des Flurs ein Speisezimmer, ebenso kostspielig eingerichtet wie der Salon. Die Überreste eines Mahls auf dem Tisch wiesen darauf hin, dass die Dame allein gespeist hatte. Wie es schien, trug sie das rote Kleid und die schwarze Kette zu ihrem eigenen Vergnügen.
»Ah, Madam!«, rief Drawlight und sprang auf. »Ich hoffe, Sie befinden sich wohl?«
Sie machte eine kleine wegwerfende Geste. »Ich nehme an, dass ich mich wohl befinde. So wohl, wie ich mich ohne Gesellschaft und mit kaum etwas zu tun nur befinden kann.«
»Was?«, rief Drawlight schockiert. »Sind Sie denn ganz allein hier?«
»Ich habe eine Gefährtin – eine alte Tante. Sie drängt mich zur Religion.«
»Oh, Madam!«, sagte Drawlight. »Verschwenden Sie Ihre Kraft nicht auf Gebete und Predigten. Dort werden Sie keinen Trost finden. Konzentrieren Sie sich stattdessen auf Rache.«
»Das werde ich. Das tue ich«, sagte sie schlicht. Sie setzte sich auf das Sofa gegenüber dem Fenster. »Und wie geht es Mr. Strange und Mr. Norrell?«
»Oh, sie sind beschäftigt, Madam. Sehr, sehr beschäftigt. Ich wünschte um ihretwillen – wie auch für Sie –, dass sie weniger zu tun hätten. Erst gestern hat Mr. Strange nach Ihnen gefragt. Er hat sich nach Ihrem Befinden erkundigt. ›Oh, leidlich‹, habe ich geantwortet. ›Nur leidlich.‹ Mr. Strange ist entsetzt, Madam, aufrichtig entsetzt über das herzlose Verhalten Ihrer Verwandten.«
»Wirklich? Ich wünschte, seine Empörung würde sich auf praktische Weise äußern«, erwiderte sie kühl. »Ich habe ihm über hundert Guineen gezahlt, und er hat nichts getan. Ich bin es müde, die Angelegenheit über einen Mittelsmann zu arrangieren, Mr. Drawlight. Überbringen Sie Mr. Strange meine Empfehlungen. Sagen Sie ihm, dass ich bereit bin, mich mit ihm zu treffen, wann immer er es wünscht, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Jede Stunde ist mir recht. Ich habe keine Verpflichtungen.«
»Ah, Madam! Wie sehr ich wünschte, ich könnte tun, worum Sie mich bitten. Wie sehr Mr. Strange es wünscht. Aber ich fürchte, es ist unmöglich.«
»Das sagen Sie, aber Sie nennen mir keinen Grund, zumindest keinen, der mich zufrieden stellt. Ich nehme an, Mr. Strange hat Bedenken, dass die Leute reden werden, sollten wir zusammen gesehen werden. Aber wir können uns ganz privat treffen. Niemand muss davon erfahren.«
»Oh, Madam. Sie haben Mr. Stranges Charakter missverstanden. Nichts würde ihm besser gefallen, als der Welt zu zeigen, wie sehr er die Menschen verachtet, die Sie verfolgen. Nur um Ihretwillen verhält er sich so umsichtig. Er befürchtet...«
Aber was Mr. Strange befürchtete, erfuhr die Dame nie, denn in diesem Augenblick hielt Drawlight plötzlich inne und sah sich mit einem völlig verwirrten Ausdruck um. »Was um alles in
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