Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
Vom Netzwerk:
der Welt war das?«, fragte er.
    Es war, als wäre irgendwo eine Tür geöffnet worden. Oder möglicherweise auch mehrere Türen. Es war, als wehte eine Brise ins Haus und brächte die halb vergessenen Düfte der Kindheit mit sich. Das Licht veränderte sich, so dass alle Schatten anders fielen. Nichts Greifbareres als das, aber dennoch hatten sowohl die Dame als auch Drawlight – wie es oft geschieht, wenn gezaubert wird – den überwältigenden Eindruck, dass die sichtbare Welt nicht mehr verlässlich war. Es war, als berührte man etwas im Raum und müsste feststellen, dass es nicht mehr da war.
    Über dem Sofa, auf dem die Dame saß, hing ein großer Spiegel an der Wand. Darin waren ein zweiter großer weißer Mond in einem zweiten großen dunklen Fenster und ein zweiter dämmriger Spiegelraum zu sehen. Drawlight und die Dame hingegen waren in dem Spiegelraum nicht anwesend. Stattdessen war dort etwas Verschwommenes, was zu einem Schatten wurde, der seinerseits eine dunkle Gestalt annahm. Die Gestalt kam auf sie zu. Am Weg, den diese Gestalt einschlug, war deutlich zu erkennen, dass der Spiegelraum nicht dem Salon entsprach, und nur aufgrund von Licht- und perspektivischen Effekten – so wie sie im Theater angewandt werden – schienen sie identisch zu sein. Das Spiegelzimmer war offenbar ein langer Korridor. Das Haar und der Rock der geheimnisvollen Gestalt wurden von einem Wind bewegt, der im Salon nicht zu spüren war, und obwohl sie rasch auf das Glas, das die beiden Räume trennte, zuschritt, brauchte sie eine Weile, um es zu erreichen. Aber schließlich stand sie vor dem Glas, und einen Augenblick lang ragte die dunkle Gestalt drohend dahinter auf, ihr Gesicht im Schatten.
    Dann hüpfte Strange sehr elegant aus dem Spiegel, lächelte sein charmantestes Lächeln und entbot Drawlight und der Dame einen »Guten Abend«.
    Er wartete einen Augenblick, als wollte er die beiden das Wort ergreifen lassen, aber als sie es nicht taten, sagte er: »Ich hoffe, Madam, Sie werden die Freundlichkeit besitzen, mir den späten Besuch zu verzeihen. Um die Wahrheit zu sagen, der Weg war schwieriger zu finden, als ich dachte. Ich bin einmal falsch abgebogen und wäre beinahe nach ... Ich weiß nicht genau, wohin, gekommen.«
    Er hielt erneut inne, als wartete er darauf, dass man ihn bat, Platz zu nehmen. Als es niemand tat, setzte er sich einfach.
    Drawlight und die Dame in dem roten Kleid starrten ihn an. Er lächelte zurück.
    »Ich habe Mr. Tantony kennen gelernt«, wandte er sich an Drawlight. »Ein sehr sympathischer Herr, wenn auch nicht sehr gesprächig. Sein Freund, Mr. Gatcombe, hat mir jedoch alles erzählt, was ich wissen wollte.«
    »Sind Sie Mr. Strange?«, fragte die Dame in dem roten Kleid.
    »Der bin ich, Madam.«
    »Das ist ein großer Glücksfall. Mr. Drawlight wollte mir gerade erklären, warum wir, Sie und ich, uns nicht treffen können.«
    »Es stimmt, Madam, bis heute Abend waren die Umstände für ein Treffen nicht günstig. Mr. Drawlight, stellen Sie uns bitte vor.«
    Drawlight murmelte, dass die Dame in dem roten Kleid Mrs. Bullworth sei.
    Strange erhob sich, verneigte sich vor Mrs. Bullworth und setzte sich wieder.
    »Ich nehme an, dass Mr. Drawlight Ihnen von meiner schrecklichen Lage erzählt hat?«, sagte Mrs. Bullworth.
    Strange machte eine kleine Kopfbewegung, die dieses oder jenes oder vielleicht auch nichts hätte bedeuten können, und sagte: »Der Bericht einer unbeteiligten Person entspricht nie der Geschichte, wie sie jemand erzählt, der von den Ereignissen direkt betroffen ist. Es mag entscheidende Punkte geben, die Mr. Drawlight aus dem einen oder anderen Grund ausgelassen hat. Seien Sie so freundlich, Madam. Ich würde es gern von Ihnen hören.«
    »Alles?«
    »Alles.«
    »Nun gut. Ich bin, wie Sie wissen, die Tochter eines Herrn aus Northamptonshire. Der Besitz meines Vaters ist ausgedehnt. Sein Haus und sein Einkommen sind groß. Wir gehören zu den ersten Familien der Grafschaft. Aber meine Familie hat mich immer in dem Glauben bestärkt, dass ich dank meiner Schönheit und meiner Fähigkeiten eine weit höhere Position in der Welt einnehmen könnte. Vor zwei Jahren schloss ich eine sehr vorteilhafte Ehe. Mr. Bullworth ist reich, und wir verkehrten in mondänen Kreisen. Aber ich war nicht glücklich. Im Sommer letzten Jahres hatte ich das Pech, einen Mann kennen zu lernen, der alles ist, was Mr. Bullworth nicht ist: gut aussehend, klug, amüsant. Ein paar kurze Wochen reichten, um

Weitere Kostenlose Bücher