Jonathan Strange & Mr. Norrell
wahrscheinlich nicht sehr häufig. Meine Jungs werden Ihnen Anweisungen bringen.«
An diesem Abend nahmen die verschiedenen Divisionen der alliierten Armee ihre Stellungen entlang eines niedrigen Hügelkammes südlich von Waterloo ein. Über ihnen grollte der Donner, und der Regen fiel in Strömen. Gelegentlich näherten sich der Ulme Abordnungen ramponierter Männer und flehten Strange an, den Regen abzustellen, doch er schüttelte nur den Kopf und sagte: »Wenn der Herzog mich bittet, ihn abzustellen, dann werde ich es tun.«
Doch die Veteranen des Spanischen Freiheitskrieges bemerkten zustimmend, dass der Regen in Kriegszeiten immer der Freund des Engländers war. Sie erzählten ihren Kameraden: »Seht mal, es gibt nichts, was so tröstlich und vertraut ist – wohingegen andere Nationen davon verwirrt werden. Es regnete in den Nächten vor Fuentes, Salamanca und Vitoria.« (So hießen einige von Wellingtons größten Triumphen auf der Iberischen Halbinsel.)
Von seinem Regenschirm geschützt, sann Strange über die bevorstehende Schlacht nach. Seit dem Ende des Spanischen Freiheitskrieges hatte er den Zauber studiert, den die Aureaten zu Kriegszeiten anwandten. Wenig war darüber bekannt; es gab Gerüchte – sonst nichts – über einen Zauberbann, den John Uskglass vor seinen eigenen Schlachten angewandt hatte. Dieser Bann sagte den Ausgang gegenwärtiger Ereignisse voraus. Kurz bevor die Nacht hereinbrach, hatte Strange eine plötzliche Eingebung. »Es gibt keine Möglichkeit herauszufinden, was Uskglass tat, aber es gibt immer noch Pales Hypothesen, die Vorahnungen zukünftiger Dinge betreffend . Sehr wahrscheinlich ist das eine verwässerte Version derselben Sache. Das könnte ich benutzen.«
Ein, zwei Augenblicke lang, bevor der Zauber wirkte, nahm er sämtliche Geräusche um sich herum wahr: Regen, der auf Metall und Leder prasselte und am Zelt herunterlief; Pferde, die vor sich hin trotteten und schnaubten; Engländer, die sangen, und Schotten, die den Dudelsack spielten; zwei walisische Soldaten, die über die richtige Deutung einer Bibelstelle stritten; der schottische Hauptmann, John Kincaid, der die amerikanischen Wilden unterrichtete und ihnen beibrachte, wie man Tee trank (vermutlich in der Annahme, dass sich weitere Sitten und Eigenschaften, die einen Briten ausmachten, von selbst einstellen würden, wenn ein Mensch erst einmal das Teetrinken gelernt hatte).
Dann Stille. Männer und Pferde schienen sich aufzulösen, zunächst einer nach dem anderen, dann schneller – Hunderte, Tausende, die aus dem Blickfeld verschwanden. Zwischen den eng aufgereihten Soldaten taten sich große Lücken auf. Ein wenig weiter östlich fehlte ein ganzes Regiment und hinterließ eine leere Fläche von der Größe des Hanover Square. Eine Stelle, die eben noch mit Leben, Gesprächen und Geschäftigkeit erfüllt war, bestand nun nur noch aus Regen, Zwielicht und den wogenden Roggenhalmen. Strange wischte sich über den Mund, denn ihm war schlecht. Ha!, dachte er. Das wird mich lehren, an dem Zauber herumzudoktern, der eigentlich Königen vorbehalten ist. Norrell hat Recht. Mancher Zauber ist nicht für einfache Zauberer bestimmt. Im Gegensatz zu mir wusste John Uskglass vermutlich, was er mit diesem schrecklichen Wissen anstellen konnte. Soll ich es jemandem erzählen? Dem Herzog? Er wird es mir nicht danken.
Jemand blickte zu ihm herunter; jemand sprach ihn an – ein Hauptmann der berittenen Artillerie. Strange sah, wie sich der Mund des Mannes bewegte, doch er hörte keinen Laut. Er schnippte mit den Fingern, um den Bann zu brechen. Der Hauptmann lud ihn auf Branntwein und Zigarren ein. Strange erschauderte und lehnte ab.
Den Rest der Nacht saß er allein unter der Ulme. Bis zu diesem Moment war es ihm nie in den Sinn gekommen, dass seine Existenz als Zauberer ihn von anderen Menschen unterschied. Doch nun hatte er die andere Seite der Dinge gesehen. Er hatte ein unheimliches Gefühl – als ob die Welt um ihn herum immer älter wurde und der beste Teil des Daseins – Lachen, Liebe und Unschuld – unwiederbringlich in die Vergangenheit entglitt.
Gegen halb zwölf Uhr am nächsten Vormittag begannen die französischen Kanonen zu feuern. Die alliierte Artillerie schoss zurück. Die klare Sommerluft, die zwischen den beiden Armeen lag, erfüllte sich mit treibenden Schleiern aus bitterem schwarzem Rauch.
Der französische Angriff richtete sich hauptsächlich gegen das Chateau in Hougoumont, einen alliierten
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