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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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senkte sich zwischen den Roggenfeldern, die unter der gleißenden Sonne mit fast übernatürlichem Glanz zu strahlen schienen. Drei Meilen weiter hatte die preußische Armee bereits den Kampf mit den Franzosen aufgenommen, und wie geisterhafte Vorboten drangen undeutliche Geräusche dröhnender Kanonen und schreiender Männer zu ihnen. Kurz vor Mittag konnte man aus der Entfernung Trommeln und grimmigen Gesang hören. Der Boden begann vom Aufstampfen Zehntausender von Füßen zu beben. Und durch den Roggen näherten sich ihnen die breiten dunklen Säulen der französischen Infanterie.
    Der Herzog hatte Strange keine spezifischen Anweisungen gegeben, daher machte er sich daran, all die Zauberei, die er auf den spanischen Schlachtfeldern betrieben hatte, aufzubieten. Er sandte flammende Engel, die die Franzosen bedrohten, und Feuer speiende Drachen, die sie angriffen. Diese Illusionen waren größer und heller als alles, was er in Spanien je hervorgebracht hatte. Mehrmals kletterte er aus seinem Graben heraus, um den Effekt zu bewundern – trotz der Warnungen der Highlanders, er könne jederzeit von einer Kugel getroffen werden.
    Seit drei oder vier Stunden hatte er unablässig solche Zauberstücke betrieben, als etwas passierte. Auf dem Schlachtfeld drohte ein plötzlicher Angriff der französischen Chasseure, den Herzog und seinen Stab einzukesseln. Die Herren waren gezwungen, kehrtzumachen und Hals über Kopf zurück zu den Linien der Alliierten zu reiten. Die nächstgelegenen Soldaten waren zufällig die 92. Gordon Highlanders.
    »92.!«, schrie der Herzog. »Hinlegen!«
    Die Highlanders legten sich sofort hin. Strange blickte aus seinem Graben auf und sah den Herzog auf Kopenhagen 97 über ihre Köpfe fliegen. Seine Durchlaucht war weitgehend unversehrt und schien von seinem Abenteuer eher erregt denn erschrocken zu sein. Er sah sich um, um festzustellen, was die anderen taten. Sein Auge blieb an Strange hängen.
    »Mr. Strange! Was machen Sie denn? Wenn ich eine Vorführung der Zauberei von Vauxhall-Gardens wünsche, dann werde ich es sagen! 98 Die Franzosen haben das in Spanien zur Genüge gesehen – sie lassen sich davon überhaupt nicht mehr ablenken. Aber es ist völlig neu für die Belgier, Holländer und Deutschen in meiner Armee . Ich habe gerade gesehen, wie Ihre Drachen in dem Wald dort eine Kompanie von Braunschweigern bedroht haben. Vier von ihnen sind hingefallen. So geht's nicht, Mr. Strange! So geht's einfach nicht!« Er ritt im Galopp davon.
    Strange starrte ihm hinterher. Er fühlte sich versucht, über die Undankbarkeit des Herzogs ein paar spitze Bemerkungen gegenüber seinen Freunden, den 92. Gordon Highlanders, fallen zu lassen; doch die waren, wie es schien, gerade ein wenig beschäftigt, da Kanonen auf sie schossen und Säbel auf sie einhackten. Also hob er seine Landkarte auf, kletterte aus dem Graben und machte sich auf den Weg zur Kreuzung, wo der Militärsekretär des Herzogs, Lord Fitzroy Somerset, ihn mit ängstlichem Blick anstarrte.
    »Mein Lord?«, sagte Strange. »Ich muss Sie etwas fragen. Wie läuft die Schlacht?«
    Somerset seufzte. »Am Ende wird alles gut werden. Natürlich. Doch die halbe Armee fehlt noch. Wir haben kaum erwähnenswerte Kavallerie hier. Ich weiß, dass Sie die Befehle sehr prompt an die Divisionen geschickt haben, aber einige von ihnen waren schlichtweg zu weit entfernt. Wenn die Franzosen Verstärkung bekommen, bevor wir welche kriegen, dann...« Er zuckte die Schultern.
    »Und wenn die französische Verstärkung kommt, aus welcher Richtung wird sie dann kommen? Aus dem Süden, nehme ich an?«
    »Süden und Südosten.«
    Strange kehrte nicht zur Schlacht zurück. Stattdessen lief er zu dem Bauernhof in Quatre Bras, der gleich hinter den britischen Linien lag. Der Bauernhof war ziemlich verlassen. Die Türen standen offen; die Vorhänge wehten aus den Fenstern; eine Sense und eine Hacke waren in eiliger Flucht in den Staub geworfen worden. Inmitten der nach Milch riechenden Düsternis des Kuhstalls fand er eine Katze mit ein paar neugeborenen Kätzchen. Immer wenn die Kanonen donnerten (was häufig der Fall war), zitterte die Katze. Er brachte ihr etwas Wasser und redete ihr leise zu. Dann setzte er sich auf die kühlen Steine und breitete die Karte vor sich aus.
    Er begann Straßen, Wege und Dörfer in den Süden und Osten des Schlachtfelds zu versetzen. Zunächst veränderte er die Lage Zweier Dörfer. Dann ließ er sämtliche Straßen, die von Osten nach

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