Jonathan Strange & Mr. Norrell
eine erschreckende Darstellung von zwei ineinander verbissenen Käfern. Ein weiterer Raum war fast leer bis auf ein Puppenhaus, das mitten im Zimmer auf einem Tisch stand; das Puppenhaus war eine genaue Kopie des richtigen Hauses – mit dem Unterschied, dass im Puppenhaus mehrere hübsch angezogene Puppen ein friedliches und vernünftiges Dasein miteinander führten: Sie buken kleine Puppenkuchen und Puppenbrote, unterhielten ihre Freunde mit einem verkleinerten Cembalo, spielten mit winzigen Karten Kasino, erzogen Miniaturkinder und verspeisten einen gebratenen Truthahn von der Größe von Mr. Segundus' Daumennagel. Das Ganze bildete einen merkwürdigen Gegensatz zur freudlosen, widerhallenden Wirklichkeit.
Er schien in jedem Raum nachgesehen zu haben, doch die Bibliothek hatte er immer noch nicht gefunden, genauso wenig wie irgendeinen Menschen. Er kam an eine kleine Tür, die von einer Treppe halb verdeckt war. Hinter ihr befand sich ein winziges Zimmer – kaum mehr als ein Schrank. Ein Mann in einem schmutzigen weißen Rock trank Branntwein und starrte an die Decke, die gestiefelten Füße auf dem Tisch. Nach ein wenig Überredung erklärte sich diese Person bereit, ihm zu zeigen, wo sich die Bibliothek befand.
Die ersten zehn Bücher, die Mr. Segundus sich ansah, waren wertlos – Bücher mit Predigten und frommen Sprüchen aus dem letzten Jahrhundert oder Schilderungen von Leuten, für die sich kein Lebender mehr interessierte. Bei den nächsten fünfzig verhielt es sich ähnlich. Er begann anzunehmen, dass seine Aufgabe bald erfüllt sein würde. Doch dann stieß er auf ein paar sehr interessante und ungewöhnliche Bände über Geologie, Philosophie und Medizin. Das stimmte ihn etwas hoffnungsvoller.
Er arbeitete zwei oder drei Stunden ohne Unterlass. Einmal glaubte er zu hören, wie eine Kutsche ankam, doch er achtete nicht weiter darauf. Danach wurde ihm plötzlich bewusst, wie hungrig er war. Er hatte keine Ahnung, ob für sein Abendessen irgendwelche Vorkehrungen getroffen worden waren, und das Haus lag weit entfernt vom nächsten Gasthaus. Er machte sich auf die Suche nach dem nachlässigen Mann in dem winzigen Zimmer, um ihn danach zu fragen. Sofort verlor er sich in dem Labyrinth aus Zimmern und Fluren. Er wanderte umher und öffnete jede Tür, während er immer hungriger wurde und immer wütender auf den nachlässigen Mann.
Schließlich befand er sich in einem altmodischen Salon mit dunkler Eichentäfelung und einem Kaminsims von der Größe eines kleinen Triumphbogens. Direkt vor ihm saß eine schöne junge Frau auf einer tiefen Fensterbank und blickte gedankenverloren auf die Bäume und die hohen kahlen Hügel gegenüber. Er hatte gerade noch genug Zeit, um festzustellen, dass an ihrer linken Hand der kleine Finger fehlte, als sie plötzlich weg war – genauer gesagt, sie veränderte sich. An ihrer Stelle saß eine viel ältere, kräftigere Frau, die etwa Mr. Segundus' Alter hatte und einen violetten Seidenmantel trug, einen indischen Schal über die Schultern gelegt hatte und ein Hündchen im Schoß hielt. Diese Dame saß in genau der gleichen Haltung wie die andere und blickte mit genau dem gleichen wehmütigen Gesichtsausdruck aus dem Fenster.
Mr. Segundus brauchte nur einen Augenblick, um all diese Einzelheiten aufzunehmen, doch der Eindruck, den die beiden Damen bei ihm hinterließen, war ungewöhnlich lebhaft – fast übernatürlich, wie Bilder im Delirium. Ein eigenartiger Schock durchfuhr ihn von Kopf bis Fuß, seine Sinne verdunkelten sich, und er fiel in Ohnmacht.
Als er wieder zu sich kam, lag er am Boden, und zwei Damen beugten sich mit bestürzten und besorgten Ausrufen über ihn. Trotz seiner Verwirrung begriff er sofort, dass keine der beiden Damen die schöne junge Dame mit dem fehlenden Finger war, die er als Erstes gesehen hatte. Eine von ihnen war die Dame mit dem Hündchen, die er als Zweites gesehen hatte, und die andere war eine dünne blonde Dame im selben Alter, deren Gesicht und Statur gleichermaßen unauffällig waren. Anscheinend war sie die ganze Zeit im Raum gewesen, doch sie hatte hinter der Tür gesessen, deshalb hatte er sie nicht gesehen.
Die beiden Damen ließen nicht zu, dass er aufstand oder versuchte, die Glieder zu bewegen. Sie gestatteten ihm kaum zu sprechen; dies, so ermahnten sie ihn in strengem Ton, würde einen weiteren Ohnmachtsanfall nach sich ziehen. Sie brachten Kissen für seinen Kopf und Decken, um ihn warm zu halten (er protestierte, ihm
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