Jonathan Strange & Mr. Norrell
irgendjemand ihm zu seinen engen Verbindungen mit dem zweitgrößten Zauberer der Epoche gratulierte.
Strange war weit entfernt von Henrys Idealvorstellung eines reichen englischen Gentlemans. Er hatte sich mehr oder weniger verabschiedet von den Unternehmungen, mit denen die Herren auf dem Lande sich in England üblicherweise die Zeit vertrieben. Strange interessierte sich weder für die Landwirtschaft noch für die Jagd. Seine Nachbarn gingen zum Jagen – Henry hörte das Echo ihrer Schüsse in den verschneiten Wäldern und Feldern und das Kläffen ihrer Hunde –, doch Strange fasste nie ein Gewehr an. Arabellas sämtliche Überredungskünste waren nötig, um ihn dazu zu bewegen, eine halbe Stunde lang in der frischen Luft spazieren zu gehen. In der Bibliothek waren alle Bücher, die Stranges Vater und seinem Großvater gehört hatten – die Werke auf Englisch, Griechisch und Latein, die jeder Gentleman in seinem Regal stehen hatte –, weggeräumt und auf dem Boden aufgetürmt worden, um Platz zu schaffen für Stranges eigene Bücher und Merkhefte 106 ; Zeitschriften, die sich der Praxis der Zauberei widmeten, wie Die Freunde der englischen Zauberei und Der Moderne Zauberer , lagen überall im Haus verstreut. Auf einem Tisch in der Bibliothek stand eine große Silberschale, die bisweilen mit Wasser gefüllt war. Strange saß manchmal eine halbe Stunde lang davor und spähte hinein, tippte die Oberfläche an, vollführte seltsame Gesten und notierte in seinem Merkheft, was er darin sah. Auf einem weiteren Tisch lag inmitten eines Durcheinanders aus Büchern eine Landkarte von England, auf der Strange die alten Elfenstraßen verzeichnete, die einst von England wer weiß wohin führten.
Es gab noch mehr, das Henry nur teilweise verstand, ihm aber noch weniger gefiel. Er wusste zum Beispiel, dass die Zimmer in Ashfair eigenartig wirkten, erkannte aber nicht, dass dies so war, weil die Spiegel in Stranges Haus das Licht von vor einer halben Stunde und das Licht von vor hundert Jahren genauso reflektieren mochten wie das Licht der Gegenwart. Und morgens beim Aufwachen sowie abends beim Einschlafen hörte er den Klang einer weit entfernten Glocke – ein trauriger Klang, wie die Glocke einer untergegangenen Stadt, die über einen riesigen Ozean hinweg zu hören war. Er dachte eigentlich nie an die Glocke und erinnerte sich auch nicht an sie, doch ihre wehmütige Wirkung begleitete ihn den ganzen Tag.
Um sich für die vielfältigen Enttäuschungen und Unzulänglichkeiten zu trösten, verglich er die Art, wie die Dinge in Great Hitherden gemacht wurden, mit der Art, wie man sie in Shropshire machte (und Shropshire hatte das Nachsehen), und beklagte sich offen darüber, dass Strange so viel studierte – »so, als hätte er kein eigenes Anwesen und müsste erst noch ein Vermögen machen«. Diese Bemerkungen richteten sich in der Regel an Arabella, doch Strange war meist in Hörweite, und binnen kurzer Zeit befand sich Arabella in der wenig beneidenswerten Lage, zwischen den beiden Männern Frieden bewahren zu müssen.
»Wenn ich Henrys Rat wünsche«, sagte Strange, »dann werde ich ihn darum bitten. Was geht es ihn an, möchte ich gern wissen, wohin ich meine Ställe baue? Oder womit ich meine Zeit verbringe?«
»Es ist sehr ärgerlich, mein Lieber«, stimmte Arabella ihm zu, »und niemand soll sich wundern, wenn es dich in Missstimmung versetzt, aber denk doch nur daran...«
»Missstimmung, ich! Er streitet doch immer mit mir! «
»Pssst, pssst! Er wird dich hören. Er hat dich geärgert, und jeder wird sagen, dass du es mit Engelsgeduld ertragen hast. Aber, weißt du, er meint es doch freundlich. Er kann sich nur nicht besonders gut ausdrücken, und trotz aller seiner Fehler werden wir ihn sehr vermissen, wenn er weg ist.«
Bei diesem letzten Punkt sah Strange vielleicht nicht ganz so überzeugt aus, wie sie es sich gewünscht hätte. Also fügte sie hinzu: »Sei freundlich zu Henry. Mir zuliebe.«
»Natürlich! Natürlich! Ich bin die Geduld in Person, wie du weißt. Es gab einmal ein Sprichwort, das heute nicht mehr gebräuchlich ist – irgendetwas mit Priestern, die Weizen säen, und Zauberern, die Roggen säen, alles auf demselben Feld. Es bedeutet, dass Priester und Zauberer nie einer Meinung sein werden. 107 Das war mir nie so klar wie jetzt. Ich denke, ich stehe auf freundschaftlichem Fuß mit der Kirche in London. Der Dekan von Westminster Abbey und der Kaplan des Prinzregenten sind wunderbare
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