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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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warst nicht allzu unhöflich zu ihm.«
    »Ich, Sir? Nein, auf keinen Fall!«
    »Vielleicht war er betrunken. Ja, ich nehme an, das war es. Vermutlich haben er und David Evans den erfolgreichen Abschluss eines Geschäfts gefeiert.«
    Jeremy runzelte die Stirn. »Das glaube ich nicht, Sir. David Evans ist Methodistenprediger.«
    »Oh! Nun ja. Ich nehme an, du hast Recht. Und es klingt tatsächlich nicht nach einer von Trunkenheit hervorgerufenen Halluzination. Es klingt eher wie etwas, was man sich einbildet, wenn man nach der Lektüre eines Romans von Mrs. Radcliffe Opium nimmt.«
    Strange stellte fest, dass Mr. Hydes Besuch ihn beunruhigt hatte. Der Gedanke an Arabella – selbst an eine auf Vorstellung und Einbildung beruhende Arabella –, die sich im Schnee verirrt hatte und über die Hügel wanderte, war verstörend. Er wurde gegen seinen Willen an seine Mutter erinnert, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, allein über dieselben Hügel zu laufen, um den Qualen einer unglücklichen Ehe zu entfliehen, und die sich in einem heftigen Regen erkältet hatte und daraufhin starb.
    An diesem Abend sagte er beim Essen zu Arabella: »John Hyde war heute hier. Er glaubt, er hätte dich letzten Dienstag mitten im Schneesturm auf dem Dyke gesehen.«
    »Nein!«
    »Doch.«
    »Der arme Mann! Er muss sich ganz schön erschrocken haben.«
    »Ich glaube schon.«
    »Ich werde Mr. und Mrs. Hyde auf jeden Fall besuchen, wenn Henry hier ist.«
    »Du scheinst die Absicht zu haben, jeden Menschen in Shropshire zu besuchen, wenn Henry hier ist«, sagte Strange. »Ich hoffe, du wirst nicht enttäuscht sein.«
    »Enttäuscht? Was meinst du damit?«
    »Nur, dass das Wetter schlecht ist.«
    »Dann werden wir Harris anweisen, langsam und vorsichtig zu fahren. Aber das tut er ohnehin. Und Starling ist ein sehr zuverlässiges Pferd. Um Starling zu erschrecken, ist viel Eis und Schnee nötig. Er lässt sich nicht leicht einschüchtern. Außerdem gibt es Leute, die Henry einfach besuchen muss – Leute, die sehr unglücklich wären, wenn er es nicht täte. Jenny und Alwen – die beiden alten Dienstboten meines Vaters. Sie sprechen über nichts anderes als darüber, dass Henry kommt. Sie haben ihn zum letzten Mal vor fünf Jahren gesehen, und die armen Leute werden vermutlich nicht noch weitere fünf Jahre leben.«
    »Schon gut, schon gut! Ich sagte nur, dass das Wetter schlecht sein wird. Das ist alles.«
    Aber das war nicht wirklich alles. Strange wusste, dass Arabella an diesen Besuch große Hoffnungen knüpfte. Seit sie verheiratet waren, hatte sie ihren Bruder nur selten gesehen. Er war nicht so häufig zum Soho Square gekommen, wie sie es gewünscht hätte, und wenn er einmal dort war, blieb er nie so lange, wie sie es gerne wollte. Doch dieser Weihnachtsbesuch würde die frühere Innigkeit wieder vollständig herstellen. Sie würden zusammen alle Schauplätze ihrer Kindheit besuchen, und Henry hatte versprochen, fast einen Monat zu bleiben.
    Henry kam, und zunächst sah es so aus, als würden Arabellas liebste Wünsche sämtlich erfüllt. Die Unterhaltung beim Essen am ersten Abend war sehr lebhaft. Henry hatte zahlreiche Neuigkeiten von Great Hitherden zu berichten, dem Dorf in Northamptonshire, in dem er Pfarrer war. 105
    Great Hitherden war ein großes, wohlhabendes Dorf, in dessen Umgebung zahlreiche vornehme Familien lebten. Henry war mit der angesehenen Stellung, die er in der dortigen Gesellschaft einnahm, hochzufrieden. Nach einer ausführlichen Beschreibung seiner Freunde, der Abendeinladungen und Bälle schloss er: »Aber ihr sollt nicht glauben, dass wir uns nicht auch um wohltätige Zwecke kümmern. Unsere Gegend ist in dieser Hinsicht sehr tätig. Es gibt viel zu tun und viele verzweifelte Menschen. Vorgestern besuchte ich eine arme, kranke Familie, und als ich dorthin kam, war Miss Watkins bereits da und spendete Geld und gute Worte. Miss Watkins ist eine sehr mitfühlende junge Dame.« Damit hielt er inne, als erwarte er, dass jemand etwas sagte.
    Strange sah ihn verständnislos an; dann schien ihm plötzlich ein Gedanke in den Sinn zu kommen. »Henry, ich muss dich um Verzeihung bitten. Du wirst uns für sehr nachlässig halten. Du hast Miss Watkins nun fünfmal in zehn Minuten erwähnt, und weder ich noch Bell haben uns auch nur im Entferntesten nach ihr erkundigt. Wir sind heute beide etwas langsam – das macht die kalte walisische Luft: sie lässt das Gehirn einfrieren –, aber jetzt, da ich endlich begreife, was

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