Jonathan Strange & Mr. Norrell
höchstpersönlich begutachten. Manche reisten ins Ausland in der Hoffnung, dass sie auf dem Kontinent billiger leben könnten als zu Hause. Andere wollten Schulden oder einem Skandal aus dem Weg gehen, und wieder andere, wie Strange, suchten nach der Ruhe, die sie in England nicht fanden.
Jonathan Strange an John Segundus Brüssel
I2.juni 1816
Soweit ich weiß, bin ich einen Monat hinter Lord Byron zurück. 127 In jeder Stadt, die wir besuchen, treffen wir auf Schankwirte, Postillione, Amtspersonen, Bürger, Kellner und Damen aller Art, deren Gehirne nach einer kurzen Begegnung mit Seiner Lordschaft noch etwas derangiert sind. Und obwohl meine Begleiter Wert darauf legen und den Leuten erzählen, dass ich dieses schreckliche Wesen, ein englischer Zauberer, bin, so bin ich doch nichts im Vergleich mit einem englischen Dichter. Wohin ich gehe, genieße ich den Ruf – und ich versichere Ihnen, das ist ganz neu für mich – des stillen gesitteten Engländers, der keinen Lärm und niemandem Umstände macht...
Es war ein merkwürdiger Sommer in diesem Jahr. Oder es war vielmehr überhaupt kein Sommer. Der Winter verlängerte seinen Mietvertrag bis August. Die Sonne ward kaum gesehen. Dicke graue Wolken bedeckten den Himmel; bitterkalte Winde wehten durch die Städte und verdarben die Ernte; Gewitter mit Regen und Hagel, gelegentlich aufgelockert durch Blitz und Donner, zogen über ganz Europa. In vieler Hinsicht war es schlimmer als Winter: Die langen Tage verweigerten den Menschen den Trost der Dunkelheit, die das ganze Elend für eine Weile verborgen hätte.
London war halb leer. Das Parlament war aufgelöst, und seine Mitglieder hatten sich auf ihre Landsitze zurückgezogen; dort ließ es sich besser in den Regen starren. In London saß Mr. John Murray, der Verleger, in seinem Haus in der Abermarie Street. Zu anderen Zeiten gehörten die Räume seines Hauses zu den belebtesten in ganz London – Dichter, Essayisten, Kritiker und die großen Männer der Literatur des Königreichs versammelten sich hier. Aber die großen Männer der Literatur waren aufs Land gezogen. Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben und der Wind heulte im Kamin. Mr. Murray häufte Kohlen aufs Feuer und setzte sich dann an seinen Schreibtisch, um Briefe zu lesen. Er nahm jeden Brief in die Hand und hielt ihn nahe vor das linke Auge (das rechte Auge war blind und nutzlos).
Wie es sich traf, waren an diesem Tag zwei Briefe aus Genf in der Schweiz gekommen. Der erste war von Lord Byron, der sich über Jonathan Strange beschwerte, und der zweite war von Strange, der sich über Byron beschwerte. Die beiden Männer waren sich ein halbes Dutzend Mal in Murrays Haus über den Weg gelaufen, aber bislang hatten sie sich nicht kennen gelernt. Strange hatte Byron ein paar Wochen zuvor in Genf aufgesucht. Das Treffen war kein Erfolg gewesen.
Strange (der zurzeit größten Wert auf die Ehe und alles, was er mit Arabella verloren hatte, legte) war empört über Byrons häusliche Arrangements. »Ich suchte Seine Lordschaft in seiner hübschen kleinen Villa am Ufer des Sees auf. Er lebt dort nicht allein. Ein anderer Dichter namens Shelley war da, Mrs. Shelley und eine weitere junge Frau – ein Mädchen eigentlich –, die sich Mrs. Clairmont nannte und deren Beziehung zu den beiden Männern ich nicht verstehe. Wenn Sie etwas darüber wissen, sagen Sie es mir nicht. Zudem war ein junger Mann anwesend, der die ganze Zeit Unsinn redete – ein Mr. Polidori.«
Lord Byron andererseits nahm Anstoß an Stranges Kleidung. »Er trägt noch immer Halbtrauer. Seine Frau starb an Weihnachten, nicht wahr? Vielleicht meint er, dass er in Schwarz geheimnisvoller und hexenmeisterlicher aussieht.«
Da sie sich von Anfang an nicht mochten, hatten sie keine Mühe, über Politik zu streiten. Strange schrieb: »Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber wir sprachen sofort über die Schlacht von Waterloo – ein unglückseliges Thema, weil ich der Zauberer des Herzogs von Wellington bin, und sie alle hassen Wellington und vergöttern Buonaparte. Mrs. Clairmont fragte mich mit der Unverschämtheit der Achtzehnjährigen, ob ich mich nicht schäme, das Werkzeug gewesen zu sein, dass einen so erhabenen Mann zu Fall gebracht hat. Nein, sagte ich.«
Byron schrieb: »Er ist ein großer Anhänger des Herzogs von W. Ich hoffe um Ihretwillen, mein lieber Murray, dass sein Buch interessanter ist als er.«
Strange endete: »Die Leute haben so sonderbare Vorstellungen von
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