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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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spalten, und sie interessieren ihn auch nicht. Aber er hegt den größten Respekt vor Büchern. Wie er mir erzählte, wacht er unablässig darüber, dass Ihre übervorsichtige Feder, Mr. Murray, nur ja nichts an seinen Gedichten ändert und einige der eher überraschenden Wörter nicht durch etwas anständigere ersetzt. Als er hörte, dass ein gesamtes Buch vom Feind des Verfassers weggezaubert wurde, war seine Empörung kaum zu beschreiben. Er schickte mir einen langen Brief, in dem er Norrell mit den lebhaftesten Ausdrücken verunglimpft. Von allen Briefen, die ich zu diesem traurigen Anlass erhielt, ist mir seiner am liebsten. Kein lebender Engländer kann es mit Seiner Lordschaft aufnehmen, wenn es um Beleidigung geht. Er kam vor einer Woche in Venedig an, und wir trafen uns im Florian 134 . Ich gebe zu, dass ich etwas angespannt war, ob er diese freche junge Person, Mrs. Clairmont, mitbringen würde, aber glücklicherweise war dem nicht so. Unsere neue freundschaftliche Beziehung wurde besiegelt durch die Entdeckung, dass wir beide gern Billard spielen; ich spiele, wenn ich über Zauberei nachdenke, und er spielt, wenn er ein Gedicht ausbrütet...
    Das Sonnenlicht war so kalt und klar wie der Ton, den ein Messer erzeugt, wenn man damit gegen ein dünnes Weinglas schlägt. In diesem Licht waren die Mauern der Kirche Santa Maria Formosa so weiß wie Muscheln oder Knochen – und die Schatten auf den Pflastersteinen waren so blau wie das Meer.
    Die Tür der Kirche wurde geöffnet, und eine kleine Gruppe trat hinaus auf den Campo. Die Damen und Herren waren Besucher in der Stadt Venedig und hatten die Kirche besichtigt, die Altäre und interessanten Dinge, und jetzt, da sie wieder im Freien waren, waren sie geneigt zu reden und erfüllten die von plätscherndem Wasser umgebene Stille des Platzes mit lautem fröhlichem Geplauder. Der Campo Santa Maria Formosa entzückte sie. Die Fassaden der Häuser waren großartig – sie konnten sie nicht genug preisen. Aber die traurigen Verfallserscheinungen der Häuser, Brücken und Kirchen schienen sie noch mehr zu begeistern. Sie waren Engländer, und der Niedergang anderer Nationen war für sie die natürlichste Sache der Welt. Sie gehörten einem Volk an, das mit einer so empfindlichen Wertschätzung seiner eigenen Talente (und einer so skeptischen Meinung von den Talenten aller anderen) gesegnet war, dass sie überhaupt nicht erstaunt gewesen wären, wenn die Venezianer rein gar nichts über die Verdienste ihrer Stadt gewusst hätten – bis die Engländer gekommen waren und ihnen erzählt hatten, dass sie ganz reizend war.
    Eine Dame, die ihr Entzücken überwunden hatte, begann mit der anderen Dame über das Wetter zu sprechen.
    »Weißt du, es ist wirklich komisch, meine Liebe, aber als wir in der Kirche waren, während du und Mr. Strange die Gemälde betrachtet habt, habe ich den Kopf aus der Tür gesteckt und gemeint, es würde regnen. Und ich hatte große Angst, dass du nass werden würdest.«
    »Nein, Tante. Schau nur, die Pflastersteine sind vollkommen trocken. Nicht ein Regentropfen ist darauf.«
    »Nun, meine Liebe, hoffentlich ist dir der Wind nicht unangenehm. Er beißt ein bisschen in den Ohren. Wir können Mr. Strange und Papa jederzeit bitten, ein wenig schneller zu gehen, wenn er dir lästig ist.«
    »Danke, Tante, ich fühle mich sehr wohl. Ich mag diese Brise -ich mag den Geruch des Meers –, sie klärt die Gedanken, die Sinne – alles. Aber vielleicht, Tante, magst du sie nicht.«
    »Oh nein, meine Liebe. So etwas macht mir überhaupt nichts aus. Ich bin abgehärtet. Ich denke nur an dich.«
    »Ich weiß, Tante«, sagte die junge Dame. Vielleicht wusste die junge Dame, dass der Sonnenschein, der Venedig in ein so vorteilhaftes Licht setzte, die Kanäle so blau und den Marmor so mystisch weiß schimmern ließ, genauso viel – oder zumindest fast so viel – für sie tat. Nichts konnte die Aufmerksamkeit besser auf Miss Greysteels durchscheinenden Teint lenken als die schnelle Abfolge von Licht und Schatten darauf. Nichts konnte ihr weißes Musselinkleid besser zur Geltung bringen als die Brise, die es bauschte.
    »Ah«, sagte die Tante, »jetzt zeigt Papa Mr. Strange irgendetwas Neues. Flora, meine Liebe, möchtest du es nicht auch sehen?«
    »Ich habe genug gesehen. Geh du, Tante.«
    Die Tante eilte auf die andere Seite des Campo, und Miss Greysteel schlenderte langsam zu der kleinen weißen Brücke neben der Kirche, stieß gereizt die Spitze ihres

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