Jonathan Strange & Mr. Norrell
auch Strange durch den Kopf gegangen sein, denn er wurde zerstreut, hielt in der Arbeit inne und blickte aus dem Fenster, als wollte er sich vergewissern, dass Venedig nicht plötzlich zu einer leeren lautlosen Ruine geworden war. Aber der Platz draußen war wie üblich geschäftig und belebt. Die Sonne schien auf das blaue Wasser. Auf dem Campo tummelten sich viele Menschen: venezianische Damen besuchten die Santa Maria Zobenigo, österreichische Soldaten schlenderten untergehakt umher und sahen sich alles an, Ladenbesitzer versuchten, ihnen etwas zu verkaufen, Straßenjungen rauften und bettelten, Katzen gingen ihren geheimen Geschäften nach.
Strange kehrte zu seiner Arbeit zurück. Er zog seinen Rock aus und krempelte einen Hemdsärmel hoch. Dann verließ er das Zimmer und kehrte mit einem Messer und einer kleinen weißen Waschschüssel zurück. Er benutzte das Messer, um ein wenig Blut aus seinem Arm zu ziehen. Er stellte die Schüssel auf den Tisch und schaute hinein, um festzustellen, ob es genügen würde, aber der Blutverlust musste ihn stärker mitgenommen haben, als er erwartet hatte, denn in einem Moment der Schwäche stieß er den Tisch um, und die Schüssel fiel zu Boden. Er fluchte auf Italienisch (eine gute Sprache, um darin zu fluchen) und sah sich nach etwas um, womit er das Blut aufwischen konnte.
Zufälligerweise lag ein weißes Tuchbündel auf dem Tisch. Es war ein Nachthemd, das Arabella in den frühen Jahren ihrer Ehe genäht hatte. Ohne sich im Klaren darüber zu sein, was es war, griff Strange danach. Er hatte es schon fast in der Hand, als Stephen Black aus den Schatten trat und ihm einen Lappen reichte. Stephen vollzog dabei die halbe Verbeugung, die einem gut ausgebildeten Diener zur zweiten Natur wird. Strange nahm den Lappen und wischte das Blut auf (ohne viel Wirkung), aber Stephens Anwesenheit im Raum schien er nicht wahrzunehmen. Stephen nahm das Nachthemd, schüttelte es aus, faltete es sorgfältig zusammen und legte es auf einen Schemel in der Ecke.
Strange ließ sich auf seinen Stuhl fallen, stieß dabei mit dem verletzten Arm gegen die Tischkante, fluchte erneut und schlug die Hände vors Gesicht.
»Was um alles in der Welt hat er vor?«, fragte Stephen Black flüsternd.
»Ach, er versucht, mich herbeizuzitieren«, erklärte der Herr mit dem Haar wie Distelwolle. »Er will mir alle möglichen Fragen über Zauberei stellen. Aber Sie müssen nicht flüstern, mein lieber Stephen. Er kann sie weder sehen noch hören. Sie sind einfach lächerlich, diese englischen Zauberer. Sie tun alles auf so umständliche Weise. Ich sage Ihnen, Stephen, diesem Kerl beim Zaubern zuzuschauen ist, als würde man einem Mann zusehen, der sich mit einem verkehrt herum angezogenen Rock, einer Binde über den Augen und einem Eimer über dem Kopf zum Essen setzt. Hast du jemals gesehen, dass ich so aberwitzige Tricks anwende? Mich selbst zur Ader zu lassen und Wörter auf Papier zu kritzeln? Wann immer ich etwas tun will, spreche ich ganz einfach zu der Luft – oder zu den Steinen – oder zum Sonnenschein – oder zum Meer – oder zu was immer und bitte sie höflich, mir zu helfen. Und da mein Bündnis mit diesen mächtigen Geistern vor Tausenden von Jahren geschlossen wurde, sind sie nur allzu gern bereit zu tun, worum immer ich sie bitte.«
»Ich verstehe«, sagte Stephen. »Aber obwohl der Zauberer unwissend ist, ist es ihm doch gelungen. Schließlich sind Sie hier, nicht wahr?«
»Ja, das ist wohl so«, sagte der Herr gereizt. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass der Zauber, der mich hierher gebracht hat, unbeholfen und unelegant ist. Und außerdem, was hat er davon? Nichts! Ich habe mich entschieden, mich nicht zu zeigen, und er kennt keinen Zauber, um das zu verhindern. Stephen! Schnell! Blättere einige Seiten in seinem Buch um. Im Zimmer ist es windstill, und es wird ihn über die Maßen verdutzen. Ha! Schau nur, wie er darauf starrt. Er vermutet, dass wir hier sind, aber er kann uns nicht sehen. Haha! Wie zornig er jetzt wird. Zwick ihn fest in den Nacken. Er wird glauben, es ist eine Mücke.«
KAPITEL 52
Die alte Dame von Cannaregio
Ende November 1816
Einige Zeit, bevor er England verließ, hatte Dr. Greysteel einen Brief von einem Freund in Schottland erhalten, mit der Bitte, sollte er bis nach Venedig kommen, einer alten Dame einen Besuch abzustatten, die dort lebte. Es wäre, so schrieb der schottische Freund, ein Akt der Wohltätigkeit, da diese einst reiche alte Dame
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