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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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jetzt arm sei. Dr. Greysteel meinte sich zu erinnern, dass sie seltsam schillernder Abstammung war – halb schottisch und halb spanisch oder vielleicht auch halb irisch und halb jüdisch.
    Dr. Greysteel hatte stets vorgehabt, sie zu besuchen, aber bei seiner Ankunft in Venedig hatte er feststellen müssen, dass er dank der vielen Schänken und Kutschen, der plötzlichen Abreisen und Änderungen der Reiseroute den Brief nicht mehr fand und sich auch nicht mehr an den genauen Inhalt erinnerte. Zudem hatte er sich ihren Namen nicht notiert, auf einem kleinen Zettel entdeckte er lediglich ihre Adresse.
    Tante Greysteel meinte, dass es unter diesen Umständen am besten wäre, der alten Dame einen Brief zu schicken und sie von ihrer Absicht, ihr einen Besuch abstatten zu wollen, in Kenntnis zu setzen. Obwohl es sicherlich, fügte sie hinzu, sehr merkwürdig aussehen würde, dass sie ihren Namen nicht kannten – zweifellos würde sie sie für erbärmliche, nachlässige Menschen halten. Dr. Greysteel war unbehaglich zu Mute, er zog mehrmals die Nase hoch und zappelte herum, aber ihm fiel nichts Besseres ein, und so schrieben sie den Brief und gaben ihn ihrer Vermieterin, damit sie ihn unverzüglich der alten Dame zustellte.
    Dann erfolgte die erste Merkwürdigkeit. Die Vermieterin las die Adresse, runzelte die Stirn und brachte den Bief – aus Gründen, die Dr. Greysteel nicht ganz verstand – zu ihrem Schwager auf die Insel Giudecca.
    Ein paar Tage später wartete dieser Schwager – ein eleganter, kleiner venezianischer Advokat – Dr. Greysteel auf. Er teilte Dr. Greysteel mit, dass er den Brief gemäß dem Wunsch von Dr. Greysteel überbracht habe, aber Dr. Greysteel solle wissen, dass die Dame in dem Teil der Stadt lebe, der Cannaregio genannt wurde, im Ghetto – wo die Juden lebten. Der Brief war einem ehrwürdigen alten jüdischen Herrn übergeben worden. Niemand hatte geantwortet. Wie wollte Dr. Greysteel weiter vorgehen? Der kleine venezianische Advokat würde sich glücklich schätzen, könnte er Dr. Greysteel zu Diensten sein.
    Am späten Nachmittag glitten Miss Greysteel, Tante Greysteel, Dr. Greysteel und der Advokat (der Signor Tosetti hieß) in einer Gondel durch die Stadt – durch den Teil der Stadt, der San Marco genannt wird, wo sie Männer und Frauen sahen, die sich auf die Vergnügungen der Nacht vorbereiteten –, am Landungssteg von Santa Maria Zobenigo vorbei, wo Miss Greysteel sich umwandte zu einem kleinen, von Kerzenlicht erhellten Fenster, hinter dem vielleicht Jonathan Strange saß, durch Rialto, wo Tante Greysteel zu seufzen begann und den Wunsch aussprach, mehr Kinder mit Schuhen an den Füßen in Venedig zu sehen.
    Am Ghetto Nuovo stiegen sie aus. Obschon alle Häuser in Venedig seltsam und alt sind, sind es die im Ghetto besonders – als wären Eigentümlichkeit und Alter zwei Waren, mit denen dieses merkantile Volk handelte, und als hätte es seine Häuser daraus erbaut. Obschon alle Straßen in Venedig melancholisch wirken, waren die Straßen hier auf ganz unverwechselbare Weise melancholisch – als wären jüdische Traurigkeit und nichtjüdische Traurigkeit nach unterschiedlichen Rezepturen zusammengesetzt. Doch die Häuser waren sehr schlicht, und die Tür, an die Signor Tosetti klopfte, war schwarz und unauffällig und hätte einem Bethaus der Quaker in England zur Ehre gereicht.
    Die Tür wurde von einem Diener geöffnet, der sie einließ und in eine dunkle Kammer führte. Sie war mit ausgetrocknetem, uralt wirkendem Holz getäfelt, das nach Meer roch.
    Eine Tür dieser Kammer stand einen Spaltbreit offen. Von dort, wo er stand, konnte Dr. Greysteel alte, abgegriffene, in dünnes Leder gebundene Bücher sehen, silberne Kerzenständer, die mehr Arme aufwiesen, als es englische Kerzenständer gewöhnlich tun, geheimnisvolle Kisten aus poliertem Holz – all das brachte Dr. Greysteel mit der Religion des jüdischen Herrn in Verbindung. An der Wand hing eine Puppe oder Marionette, so groß und breit wie ein Mensch, mit riesigen Händen und Füßen, gekleidet wie eine Frau. Ihr Kopf war auf die Brust gesunken, so dass ihr Gesicht nicht zu erkennen war.
    Der Diener ging durch diese Tür, um mit seinem Herrn zu sprechen. Dr. Greysteel flüsterte seiner Schwester zu, dass der Diener recht anständig aussehe. Ja, erwiderte Tante Greysteel, nur dass er keinen Rock trage. Tante Greysteel sagte, ihr sei schon oft aufgefallen, dass Diener dazu neigten, sich in Hemdsärmeln zu präsentieren,

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