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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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und vor allem wenn sie bei allein stehenden Herren in Dienst seien, würde nichts unternommen, um diese schlechte Gewohnheit zu korrigieren. Tante Greysteel wusste nicht, warum dem so war. Tante Greysteel nahm an, dass der jüdische Herr ein Witwer war.
    »Oh!«, sagte Dr. Greysteel, der durch die halb offene Tür spähte. »Wir haben ihn beim Abendessen gestört.«
    Der ehrwürdige jüdische Herr trug einen langen, staubigen schwarzen Rock und einen langen, lockigen grauen Bart, hatte weißes Haar und eine schwarze Kappe auf dem Kopf. Er saß an einem langen Tisch, auf dem ein fleckenloses weißleinenes Tischtuch lag. Er hatte sich ein großes Stück davon als Serviette in den Kragen seines schwarzen Rocks gestopft.
    Tante Greysteel war höchst schockiert, dass Dr. Greysteel durch Türspalten spähte, und versuchte, ihn daran zu hindern, indem sie mit ihrem Regenschirm nach ihm stieß. Aber Dr. Greysteel war nach Italien gekommen, um möglichst viel zu besichtigen, und sah keinen Grund, warum er jüdische Herren in ihren privaten Gemächern davon ausnehmen sollte.
    Dieser jüdische Herr schien nicht geneigt, sein Essen zu unterbrechen, um eine unbekannte englische Familie zu empfangen; er schien dem Diener Anweisungen zu geben, was er den Herrschaften sagen sollte.
    Der Diener kehrte zurück und sprach mit Signor Tosetti, und nachdem er geendet hatte, verbeugte sich Signor Tosetti vor Tante Greysteel und erklärte, der Name der Dame, die sie suchten, sei Delgado und sie wohne ganz oben im Haus. Signor Tosetti war ein wenig verärgert darüber, dass keiner der Diener des jüdischen Herrn willens schien, ihnen den Weg zu weisen und ihren Besuch anzukündigen, aber, so sagte er, sie wären ja wagemutige Abenteurer und könnten zweifellos allein eine Treppe hinaufsteigen.
    Dr. Greysteel und Signor Tosetti nahmen Kerzen. Die Treppe wand sich hinauf in die Schatten. Sie kamen an vielen Türen vorbei, die zwar prächtig, aber merkwürdig niedrig waren – denn um alle Menschen aufzunehmen, waren die Häuser im Ghetto so hoch und mit so vielen Stockwerken gebaut worden, wie die Hausbesitzer sich getraut hatten, und zum Ausgleich dazu waren die Decken recht niedrig. Zuerst hörten sie hinter den Türen Leute reden, und einmal hörten sie einen Mann ein trauriges Lied in einer unbekannten Sprache singen. Dann kamen sie zu Türen, die offen standen und in die Dunkelheit führten; aus ihnen wehte ein kalter abgestandener Luftzug. Die letzte Tür jedoch war geschlossen. Sie klopften, aber niemand öffnete. Sie riefen, dass sie gekommen seien, um Mrs. Delgado ihre Aufwartung zu machen. Immer noch keine Antwort. Und weil Tante Greysteel meinte, es wäre töricht, so weit zu fahren, nur um wieder zurückzukehren, drückten sie die Tür auf und traten ein.
    Der Raum – kaum mehr als ein Dachboden – wies all die Erbärmlichkeit auf, die ihm hohes Alter und größte Armut verleihen konnten. Nichts war darin, was nicht zerbrochen, angeschlagen oder abgerissen war. Alle Farben waren verblichen oder nachgedunkelt oder was auch immer, bis sie grau waren. Es gab ein kleines Fenster, das geöffnet war, um die Abendluft und den Mond einzulassen, obwohl es ein wenig überraschte, dass der Mond mit seinem sauberen Gesicht sich herabließ, dieses schmutzige kleine Zimmer mit den Fingern zu berühren.
    Aber daran lag es nicht, dass Dr. Greysteel so beunruhigt dreinblickte, an seinem Halstuch zerrte, abwechselnd rot und blass wurde und nach Luft schnappte. Wenn es etwas gab, was Dr. Greysteel überhaupt nicht ausstehen konnte, dann waren es Katzen – und das Zimmer war voller Katzen.
    Inmitten der Katzen saß eine überaus magere Person auf einem verstaubten Holzstuhl. Es war ein Glück, dass die Greysteels, wie Signor Tosetti gesagt hatte, wagemutige Abenteurer waren, denn der Anblick von Mrs. Delgado hätte eine nervöse Person leicht aus dem Gleichgewicht bringen können. Obschon sie sehr aufrecht dasaß – man hätte fast sagen können, sie saß in einer Haltung da, als wartete sie auf etwas –, wies sie viele Anzeichen und Entstellungen extrem hohen Alters auf und war dabei, jegliche Ähnlichkeit mit den Menschen zu verlieren und stattdessen anderen Lebewesen zu gleichen. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß und waren mit so vielen braunen Flecken übersät, dass sie aussahen wie zwei Fische. Ihre Haut war so weiß und durchscheinend wie die Haut uralter Greise, so dünn und verrunzelt wie Spinnweben, durchzogen von blauen verknoteten

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