Jonathan Strange & Mr. Norrell
Ursache dafür gibt. Eine Infektion vielleicht?«
»Unsinn!«, erklärte Byron. »Die Ursachen seines Wahnsinns sind rein metaphysischer Natur. Sie sind in dem breiten Abgrund zwischen dem, der man ist, und dem, der man sein möchte, zwischen der Seele und dem Leib zu finden. Verzeihen Sie mir, Dr. Greysteel, in diesen Dingen habe ich Erfahrung. Davon kann ich mit Autorität sprechen.«
»Aber...« Dr. Greysteel runzelte die Stirn und hielt inne, um seine Gedanken zu sammeln. »Aber die Zeit intensiver Enttäuschung schien vorbei. Er kam mit seiner Arbeit gut voran.«
»Ich kann Ihnen nur Folgendes sagen. Vor dieser sonderbaren Besessenheit mit seiner toten Frau war er von etwas anderem wie besessen: John Uskglass. Das haben Sie doch gewiss bemerkt? Nun, ich weiß sehr wenig über englische Zauberer. Sie erschienen mir stets als ein Haufen langweiliger, verstaubter alter Männer -ausgenommen John Uskglass. Er war von ganz anderem Kaliber! Der Zauberer, der die Anderländer 151 zähmte. Der einzige Zauberer, der den Tod besiegte! Der Zauberer, den Luzifer wie einen Gleichgestellten behandeln musste! Nun, wann immer Strange sich mit dieser erhabenen Gestalt vergleicht – wie er es von Zeit zu Zeit notwendigerweise tun muss –, sieht er sich, wie er tatsächlich ist: eine sich abplackende, erdgebundene Mittelmäßigkeit. All seine Errungenschaften – die auf der trostlosen kleinen Insel 152 so hoch gelobt werden – zerfallen zu Staub vor John Uskglass! Das kann einen in die schönste Verzweiflung stürzen, die man sich nur wünschen kann. So ist's, sterblich sein – Und Dinge suchen jenseits der Sterblichkeit!« Lord Byron hielt kurz inne, als wollte er sich den letzten Satz merken, für den Fall, dass er ihn in einem Gedicht verwenden wollte. »Ich selbst verspürte die gleiche Melancholie, als ich mich im September in den Schweizer Bergen aufhielt. Ich ging spazieren und hörte alle fünf Minuten eine Lawine abgehen – ls wäre Gott entschlossen, mich zu vernichten. Ich war erfüllt von Reue und unsterblichem Sehnen. Mehrmals war ich ernsthaft versucht, mir das Gehirn herauszublasen – und ich hätte es getan, wenn ich nicht an das Vergnügen gedacht hätte, das ich meiner Schwiegermutter damit bereitet hätte.«
Was Dr. Greysteel betraf, konnte sich Lord Byron an jedem Tag der Woche erschießen. Aber Strange war etwas anderes. »Sie halten ihn der Selbstzerstörung fähig?«, fragte er besorgt.
»Oh, aber gewiss.«
»Was können wir tun?«
»Tun?«, wiederholte Seine Lordschaft etwas verdattert. »Warum wollen Sie etwas tun?« Und da er der Meinung war, dass sie lange genug über jemand anders gesprochen hatten, brachte er die Unterhaltung auf sich selbst. »Im Ganzen gesehen bin ich froh, dass wir uns kennen gelernt haben, Dr. Greysteel. Ich habe einen Arzt aus England mitgenommen, aber ich musste ihn in Genua entlassen. Und jetzt befürchte ich, dass meine Zähne sich lockern. Schauen Sie.« 153 Byron riss den Mund auf und entblößte vor Dr. Greysteel seine Zähne.
Dr. Greysteel zog vorsichtig an einem großen weißen Zahn. »Sie scheinen mir sehr gesund und fest zu sitzen«, sagte er.
»Meinen Sie? Aber nicht mehr lange, fürchte ich. Ich werde alt. Ich welke dahin. Ich spüre es.« Byron seufzte. Dann ging ihm ein angenehmerer Gedanke durch den Kopf, und er fügte hinzu: »Wissen Sie, Stranges Krise hätte zu keinem besseren Zeitpunkt auftreten können. Zufälligerweise schreibe ich gerade ein Gedicht über einen Zauberer, der mit den unsagbaren Geistern kämpft, die sein Schicksal beherrschen. Selbstverständlich ist Strange als Vorbild für meinen Zauberer bei weitem nicht vollkommen – ihm fehlt die wahre Natur des Heroen. Dafür werde ich mich selbst zum Vorbild nehmen müssen.«
Ein hübsches, junges italienisches Mädchen ging vorbei. Byron legte den Kopf auf höchst merkwürdige Weise schief, schloss halb die Augen und setzte eine Miene auf, als würde er demnächst aufgrund chronischer Verstopfung das Zeitliche segnen. Dr. Greysteel konnte nur annehmen, dass er die junge Frau in den Genuss des Byron'schen Profils und des Byron'schen Ausdrucks kommen lassen wollte.
KAPITEL 57
Die schwarzen Briefe 154
Dezember 1816
Jonathan Strange an Hochwürden Henry Woodhope
Santa Maria Zobenigo, Venedig 3. Dezember 1816
Mein lieber Henry, bereite Dich auf wunderbare Neuigkeiten vor. Ich habe Arabella gesehen . Ich habe sie gesehen und mit ihr gesprochen. Ist das nicht großartig? Ist das nicht die
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