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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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unnatürliche Nacht? Was ist unnatürlich daran?«
    »Um Himmels willen, Strange. Es ist fast Mittag.«
    Eine Weile schwieg Strange. Er schaute zu dem dunklen Fenster, dann in das dunkle Zimmer und schließlich zu Dr. Greysteel. »Ich hatte nicht die geringste Ahnung«, flüsterte er entsetzt. »Glauben Sie mir! Das habe ich nicht getan!«
    »Wer dann?«
    Strange antwortete nicht; er starrte ins Leere.
    Dr. Greysteel befürchtete, dass weitere Fragen zur Dunkelheit ihn nur noch mehr reizen würden, deswegen fragte er nur: »Können Sie das Tageslicht zurückbringen?«
    »Ich ... ich weiß es nicht.«
    Dr. Greysteel kündigte an, dass sie am nächsten Tag wiederkommen würden, und nutzte die Gelegenheit, um noch einmal Schlaf als exzellentes Heilmittel zu empfehlen.
    Strange hörte nicht zu, aber als Dr. Greysteel und Frank sich zum Gehen wandten, fasste er den Doktor am Arm und flüsterte: »Darf ich Sie etwas fragen?«
    Dr. Greysteel nickte.
    »Haben Sie keine Angst, dass sie erlöschen wird?«
    »Dass was erlöschen wird?«, fragte Dr. Greysteel.
    »Die Kerze.« Strange deutete auf Dr. Greysteels Stirn. »Die Kerze in Ihrem Kopf.«
    Die Dunkelheit draußen schien noch unheimlicher als zuvor. Dr. Greysteel und Frank gingen schweigend durch die nächtlichen Straßen. Als sie am westlichen Ende des Markusplatzes ins Tageslicht traten, seufzten beide vor Erleichterung.
    Dr. Greysteel sagte: »Ich bin entschlossen, dem Statthalter nichts davon zu sagen, dass er den Verstand verloren hat. Gott weiß, was die Österreicher tun würden. Sie könnten Soldaten zu ihm schicken und ihn verhaften lassen – oder Schlimmeres. Ich werde einfach sagen, dass er die Nacht im Augenblick nicht verbannen kann, dass er der Stadt aber nichts Böses will – denn ich bin sicher, dass er ihr nichts Böses will –, und dass ich ihn gewiss werde davon überzeugen können, bald alles wieder zu richten.«
    Als am nächsten Tag die Sonne aufging, herrschte in der Pfarrgemeinde Santa Maria Zobenigo noch immer Dunkelheit. Um halb neun ging Frank aus, um Milch und Fisch zu kaufen. Das hübsche dunkeläugige Mädchen, das Milch auf dem Milchkahn im Kanal von San Lorenzo verkaufte, mochte Frank und hatte stets ein Wort und ein Lächeln für ihn übrig. Heute Morgen reichte sie ihm die Kanne mit Milch und fragte, ob er gehört hätte, dass der englische Zauberer verrückt sei.
    Auf dem Fischmarkt am Canale Grande verkaufte ein Fischer Frank drei Seebarben, vergaß jedoch fast, das Geld dafür zu nehmen, weil er seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Streit mit seinem Nachbarn konzentrierte. Sie waren sich uneins, ob der englische Zauberer verrückt geworden war, weil er Zauberer oder weil er Engländer war. Auf dem Rückweg wünschten zwei bleichgesichtige Nonnen, die die Marmortreppe einer Kirche schrubbten, Frank einen guten Morgen und sagten ihm, dass sie für den armen, verrückten englischen Zauberer zu beten gedachten. Kurz vor der Haustür sprang eine weiße Katze aus einer Gondel auf den Kai und sah ihn schräg an. Er wartete darauf, dass sie etwas über Jonathan Strange sagte, aber das tat sie nicht.
    »Wie in Gottes Namen konnte das passieren?«, fragte Dr. Greysteel und setzte sich im Bett auf. »Glaubst du, dass Mr. Strange ausgegangen ist und mit jemandem gesprochen hat?«
    Frank wusste es nicht. Wieder ging er aus, diesmal, um Erkundigungen einzuziehen. Wie es schien, hatte Strange sein Zimmer im obersten Stockwerk des Hauses in Santa Maria Zobenigo nicht verlassen; aber Lord Byron (die einzige Person in der ganzen Stadt, die die ewige Nacht unterhaltsam fand) hatte ihn gegen siebzehn Uhr am Tag zuvor besucht und ihn noch immer zaubernd und über Kerzen, Ananas, Jahrhunderte dauernde Tänze und dunkle Wälder in den Straßen von Venedig redend vorgefunden. Byron war nach Hause zurückgekehrt und hatte seiner Geliebten, seinem Vermieter und seinem Kammerdiener davon erzählt; da sie alle gesellige Menschen waren, die ihre Abende im Kreis gesprächiger Freunde verbrachten, wussten am nächsten Morgen bemerkenswert viele Menschen Bescheid.
    »Lord Byron! Natürlich!«, rief Dr. Greysteel. »Ihn habe ich ganz vergessen. Ich muss zu ihm und ihn bitten, diskret zu sein.«
    »Ich glaube, dafür ist es ein bisschen spät, Sir«, sagte Frank.
    Dr. Greysteel musste zugeben, dass er Recht hatte. Nichtsdestotrotz meinte er, sich mit jemandem beraten zu müssen. Und wer wäre dafür besser geeignet, als Stranges anderer Freund? Am Abend kleidete er

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