Jonathan Strange & Mr. Norrell
beste aller möglichen Nachrichten? Du wirst mir nicht glauben. Du wirst es nicht verstehen. Sei versichert, es war kein Traum. Es war nicht Trunkenheit oder Wahnsinn oder Opium. Bedenke: Du musst nur akzeptieren, dass wir letztes Weihnachten in Clun halb verzaubert waren, und alles wird glaubwürdig, alles wird möglich. Ist es nicht eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet ich Zauberei nicht als solche erkannt habe, als ich unter ihrem Einfluss stand? Zu meiner eigenen Verteidigung kann ich anführen, dass sie unerwarteter Natur war und aus Bereichen kam, die ich nie hätte vorhersehen können. Doch zu meiner Schande haben andere schneller begriffen als ich. John Hyde wusste, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, und versuchte, mich zu warnen, aber ich habe nicht auf ihn gehört. Auch du, Henry, hast mir klipp und klar erklärt, dass ich zu viel Zeit mit meinen Büchern verbrachte und meine Pflichten und meine Frau vernachlässigte. Ich wollte Deinen Rat nicht hören und gab Dir mehrmals eine unhöfliche Antwort. Jetzt bedaure ich das und bitte Dich demütig um Verzeihung. Gib mir alle Schuld. Du kannst mir nicht halb so viele Vorwürfe machen, wie ich mir selbst mache. Aber nun zum Wesentlichen. Du musst nach Venedig kommen, ich brauche Dich. Arabella ist an einem Ort nicht weit von hier, aber sie kann von dort nicht fort, und ich kann nicht hin – zumindest... [mehrere Zeilen ausgestrichen]. Meine Freunde hier in Venedig sind wohlmeinende Menschen, aber sie quälen mich mit Fragen. Ich habe keinen Diener, und hier gibt es etwas, was mich nicht unbeobachtet durch die Stadt gehen lässt. Davon will ich nichts schreiben. Mein lieber, guter Henry, bitte mach keine Schwierigkeiten. Komm sofort nach Venedig. Deine Belohnung wird Arabella sein, die uns heil und unversehrt wiedergegeben sein wird. Aus welchem anderen Grund sollte Gott mich zum größten Zauberer unserer Zeit gemacht haben, wenn nicht dafür?
Dein Bruder,
S
Jonathan Strange an Hochwürden Henry Woodhope
Santa Maria Zobenigo, Venedig 6. Dezember 1816
Mein lieber Henry, seit ich Dir geschrieben habe, quält mich mein Gewissen. Du weißt, ich habe Dich nie belogen, aber ich gebe zu, dass ich Dir nicht genug erzählt habe, damit Du Dir ein genaues Bild formen kannst, wie es derzeit um Arabella steht. Sie ist nicht tot, aber... [zwölf Zeilen durchgestrichen und nicht entzifferbar] ... unter der Erde, in einem Hügel, den sie Brugh nennen. Am Leben, doch nicht am Leben – aber auch nicht tot – verzaubert . Seit undenklichen Zeiten ist es ihre Gewohnheit, Christenmenschen zu stehlen und sie zu Dienern zu machen oder sie zu zwingen – wie in diesem Fall –, an ihren trostlosen Vergnügungen teilzunehmen: Tänze, Feste, lange, leere Feierlichkeiten aus Staub und Nichts. Unter all den Vorwürfen, die ich auf mich nehme, ist bei weitem der bitterste, dass ich sie verraten habe – sie, die zu schützen meine erste Pflicht gewesen wäre.
Jonathan Strange an Hochwürden Henry Woodhope
Santa Maria Zobenigo, Venedig 15. Dezember 1816
Mein lieber Henry, es betrübt mich, Dir mitteilen zu müssen, dass ich jetzt bessere Gründe habe für das Unbehagen, von dem ich Dir in meinem letzten Brief berichtete. 155 Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um das Gitter ihres schwarzen Gefängnisses aufzubrechen, aber vergeblich. Ich kenne keinen Zauber, der an dieser uralten Zauberei auch nur kratzen kann. Soweit ich weiß, gibt es im englischen Kanon keinen solchen Zauber. Geschichten von Zauberern, die Gefangene im Elfenland befreiten, sind äußerst selten. Ich erinnere mich an keine einzige. Martin Pale beschreibt irgendwo in einem seiner Bücher, dass Elfen ihrer menschlichen Gäste manchmal überdrüssig werden und sie ohne Vorwarnung aus ihrem Brugh verbannen; die armen Gefangenen sind dann zwar wieder zu Hause, aber Hunderte von Jahren, nachdem sie es verlassen haben. Vielleicht wird es so kommen. Arabella wird nach England zurückkehren, lange nachdem Du und ich tot sind. Bei diesem Gedanken gefriert mir das Blut in den Adern. Ich will Dir nicht verheimlichen, dass sich eine düstere Stimmung auf mich gelegt hat. Die Zeit und ich haben gestritten. Zu jeder Stunde ist jetzt Mitternacht. Ich hatte eine Standuhr und eine Taschenuhr, und ich habe sie beide zerstört. Ich konnte nicht ertragen, wie sie mich verhöhnten. Ich schlafe nicht. Ich kann nicht essen. Ich trinke Wein – und etwas anderes. Manchmal gerate ich jetzt außer mir. Ich
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