Jonathan Strange & Mr. Norrell
sich sorgfältig und fuhr mit der Gondel zum Haus der Komtesse Albrizzi. Die Komtesse war eine schlaue Griechin reifen Alters, die mehrere Bücher über Bildhauerei veröffentlicht hatte; aber ihr größtes Vergnügen war es, Conversazioni abzuhalten, bei denen sich alle möglichen eleganten und gelehrten Personen trafen. Strange war ein–, zweimal dort gewesen, Dr. Greysteel hatte bislang jedoch nichts daran gelegen.
Er wurde in einen großen Raum im Piano nobile geführt. Er war prächtig ausgestattet, hatte einen Marmorboden, wunderbare Statuen, bemalte Wände und Decken. Auf einer Seite des Raums saßen die Damen in einem Halbkreis um die Komtesse. Die Männer standen auf der anderen Seite. Kaum hatte er den Raum betreten, spürte Dr. Greysteel die Blicke der anderen Gäste auf sich. Mehr als eine Person wies ihre Nachbarn auf ihn hin. Es bestand kein Zweifel, dass sie über Strange und die Dunkelheit sprachen.
An einem Fenster stand ein gut aussehender kleiner Mann. Er hatte dunkles lockiges Haar und einen vollen, weichen roten Mund. Der Mund wäre bei einer Frau auffällig gewesen, bei einem Mann war er schlichtweg außergewöhnlich. Mit seiner kleinen Gestalt, den sorgfältig gewählten Kleidern, dem dunklen Haar und den dunklen Augen hatte er ein wenig Ähnlichkeit mit Christopher Drawlight – aber nur, wenn Drawlight beängstigend schlau gewesen wäre. Dr. Greysteel trat zu ihm und sagte: »Lord Byron?«
Der Mann wandte sich um. Er war nicht gerade erfreut, von einem langweiligen, stämmigen Engländer in mittleren Jahren angesprochen zu werden. Aber er konnte nicht verleugnen, wer er war. »Ja?«
»Mein Name ist Greysteel. Ich bin ein Freund von Mr. Strange.«
»Ah!«, sagte Seine Lordschaft. »Der Arzt mit der schönen Tochter!«
Dr. Greysteel seinerseits war nicht gerade erfreut, dass der berüchtigtste Lebemann ganz Europas in solchen Tönen von seiner Tochter sprach, aber er konnte nicht leugnen, dass Flora schön war. Er stellte es für den Augenblick hintan und sagte: »Ich war bei Strange. Meine schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt. Er hat den Verstand verloren.«
»Aber gewiss«, sagte Byron. »Ich war vor ein paar Stunden erneut bei ihm und konnte ihn nicht dazu bringen, von etwas anderem als von seiner toten Frau zu reden, und dass sie nicht wirklich tot ist, sondern nur verzaubert. Und jetzt hüllt er sich in Dunkelheit und betreibt Schwarze Magie. Es hat etwas Bewundernswertes, finden Sie nicht auch?«
»Bewundernswert?«, entgegnete der Doktor scharf. »Sagen Sie lieber bedauernswert. Glauben Sie, dass er die Dunkelheit herbeigezaubert hat? Er hat mir erzählt, dass er es nicht war.«
»Aber natürlich war er es«, erklärte Lord Byron. »Eine düstere Welt für seine düstere Stimmung. Wer möchte nicht gern hin und wieder die Sonne verfinstern? Der Unterschied besteht darin, dass man es tatsächlich tun kann, wenn man Zauberer ist.«
Dr. Greysteel dachte darüber nach. »Vielleicht haben Sie Recht«, sagte er. »Vielleicht hat er die Dunkelheit erschaffen und sie dann vergessen. Ich glaube, er vergisst oft, was er gesagt oder getan hat. Wie ich festgestellt habe, erinnert er sich kaum mehr an unsere früheren Gespräche.«
»Aha. Nun ja«, sagte Seine Lordschaft, als wäre das nicht weiter überraschend und als wäre auch er froh, wenn er sein Gespräch mit dem Doktor möglichst schnell wieder vergessen könnte. »Wussten Sie, dass er seinem Schwager geschrieben hat?«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Er hat den Mann angewiesen, nach Venedig zu kommen und seine tote Schwester zu besuchen.«
»Glauben Sie, dass er kommen wird?«, fragte Dr. Greysteel.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung!« Lord Byrons Tonfall legte nahe, dass er Dr. Greysteels Annahme, der größte Dichter unseres Zeitalters würde sich für so etwas interessieren, als etwas dreist empfand. Es herrschte kurz Schweigen, dann fügte er in normalem Tonfall hinzu: »Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube nicht, dass er kommen wird. Strange hat mir den Brief gezeigt. Es waren zusammenhanglose Phrasen und Argumente, die niemand außer einem Verrückten – oder einem Zauberer – verstehen kann.«
»Es ist bitter«, sagte Dr. Greysteel. »Sehr bitter! Erst vorgestern haben wir einen Spaziergang mit ihm gemacht. Er war so heiterer Stimmung. Ich kann nicht verstehen, wie in einer Nacht aus einem geistig völlig gesunden Mann ein völlig wahnsinniger Mann werden kann. Ich frage mich, ob es nicht eine physische
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