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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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überall in der Stadt bekannt, und die Bürger waren äußerst beunruhigt. Bisher war die Säule der Dunkelheit ein Schrecken gewesen, der sich auf Venedig beschränkte, das – so meinten zumindest die Einwohner Paduas -eine natürliche Kulisse für Gräuel zu sein schien. Nun war klar, dass Strange sich in Venedig freiwillig aufhielt und nicht, weil er verzaubert war. Jede Stadt Italiens – jede Stadt der Welt – konnte plötzlich von der immerwährenden Dunkelheit heimgesucht werden. Dies war schlimm genug, aber für Tante Greysteel war es noch viel schlimmer; zu all ihrer Furcht vor Strange gesellte sich die unwillkommene Überzeugung, dass Flora gelogen hatte. Sie rang mit sich, was wahrscheinlicher war: dass ihre Nichte gelogen hatte, weil sie unter dem Einfluss eines Zaubers stand oder weil ihre Zuneigung zu Strange ihre Grundsätze in Frage gestellt hatte. Tante Greysteel wusste nicht, was schlimmer wäre.
    Sie schrieb an ihren Bruder in Venedig und bat ihn zu kommen. In der Zwischenzeit, so entschied sie, würde sie nichts sagen. Während des restlichen Tages beobachtete sie Flora genau. Flora verhielt sich weitgehend wie sonst, außer dass gelegentlich ein Hauch von Reue in ihrem Benehmen ihrer Tante gegenüber zu spüren war, wo kein Hauch Reue hätte sein sollen.
    Am nächsten Tag um ein Uhr – ein paar Stunden, bevor Tante Greysteels Brief ihn hätte erreichen können – traf Dr. Greysteel zusammen mit Frank aus Venedig ein. Sie berichteten ihr, es sei in Venedig kein Geheimnis, dass Strange den Sprengel von Santa Maria Zobenigo verlassen und sich auf terra firma begeben hatte. Von vielen Stadtteilen aus war zu sehen gewesen, wie die Säule der Dunkelheit über die Küste wanderte. Ihre Oberfläche hatte geflimmert und Windungen und Spiralen aus Dunkelheit waren hinein- und herausgeflogen, so dass es schien, als bestünde sie aus schwarzen Flammen. Wie Strange es geschafft hatte, das Wasser zu überqueren – ob er ein Boot genommen hatte oder ob seine Überfahrt rein zauberischer Art gewesen war –, war nicht bekannt. Das Gewitter, mit dessen Hilfe er versucht hatte, seine Ankunft zu verbergen, war erst heraufbeschworen worden, als er Strà erreichte, das acht Meilen von Padua entfernt lag.
    »Ich sage dir, Louisa«, meinte Dr. Greysteel, »jetzt möchte ich auf gar keinen Fall mit ihm tauschen. Bei seinem Näherkommen floh jeder. Von Mestre bis Strà kann er auf kein anderes Lebewesen gestoßen sein – nur auf stille Straßen und verlassene Felder. Von nun an ist die Welt für ihn ein leerer Ort.«
    Noch vor wenigen Momenten hatte Tante Greysteel ohne besonders zärtliche Gefühle an Strange gedacht, doch das Bild, das ihr Bruder heraufbeschwor, war so schrecklich, dass ihr die Tränen in die Augen traten. »Und wo ist er jetzt?«, fragte sie in etwas milderem Ton.
    »Er hat sich in seine Zimmer in Santa Maria Zobenigo zurückgezogen«, sagte Dr. Greysteel. »Alles ist genau wie vorher. Sobald wir erfuhren, dass er sich in Padua aufgehalten hatte, erriet ich, worauf er es abgesehen hatte. Wir kamen, so schnell wir konnten. Wie geht es Flora?«
    Flora war im Salon. Sie hatte ihren Vater erwartet – ja, sie schien erleichtert zu sein, dass die Unterredung endlich stattfand. Dr. Greysteel hatte kaum die erste Frage hervorgebracht, als das Geständnis aus ihr herausbrach. Ein übervolles Herz wurde ausgeschüttet. Ihre Tränen flössen in Strömen, und sie gab zu, dass sie Strange gesehen hatte. Sie hatte ihn unten auf der Straße gesehen und wusste, dass er auf sie wartete, also war sie aus dem Haus gelaufen, um ihn zu treffen.
    »Ich werde dir alles erzählen, das verspreche ich«, sagte sie. »Aber nicht jetzt. Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich meine« – sie errötete – »außer den Lügen, die ich meiner Tante erzählt habe – für die ich um Verzeihung bitte. Aber es ist nicht an mir, diese Geheimnisse zu berichten.«
    »Aber warum muss es überhaupt Geheimnisse geben, Flora?«, fragte ihr Vater. »Merkst du daran nicht, dass irgendetwas falsch ist? Leute mit ehrbaren Absichten haben keine Geheimnisse. Sie handeln frei und offen.«
    »Ja, vermutlich... Aber das gilt nicht für Zauberer! Mr. Strange hat Feinde – dieser schreckliche alte Mann in London und auch noch andere. Aber du darfst mich nicht schelten, weil ich etwas falsch gemacht habe. Ich habe mich so bemüht, das Richtige zu tun, und ich glaube, es ist mir gelungen. Weißt du, es gibt einen bestimmten Zauber, den er ausgeübt

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