Jonathan Strange & Mr. Norrell
zuvor. Dann wartete sie ein paar Augenblicke. »Wo hast du ihn gekauft?«, fragte sie. Mehr fiel ihr nicht ein.
»Ich kann mich nicht genau erinnern. Er wurde wohl gerade geliefert.«
»Aber sicherlich würde niemand etwas während eines Gewitters liefern. Und selbst wenn jemand so töricht gewesen wäre, hätte er an die Tür geklopft – und es nicht auf diese merkwürdige heimliche Art getan.«
Auf diese ziemlich vernünftigen Argumente antwortete Flora nichts.
Tante Greysteel ließ das Thema ohne Bedauern fallen. Sie hatte genug von Gewittern und Schrecken und unerwarteten Spiegeln. Die Frage, warum der Spiegel aufgetaucht war, war nun geklärt, also schob sie die Frage, wie er aufgetaucht war, beiseite. Erfreut wandte sie sich beruhigenderen Themen zu wie Floras Kleid, Floras Schuhen, der Wahrscheinlichkeit, dass Flora sich erkältet hatte, und der Notwendigkeit, dass Flora sich sofort abtrocknete, ihren Morgenrock anzog, mitkam, sich im Wohnzimmer ans Feuer setzte und etwas Heißes zu sich nahm.
Als beide wieder im Wohnzimmer saßen, sagte Tante Greysteel: »Sieh nur. Das Gewitter ist fast vorüber. Es scheint sich an die Küste zurückzuziehen. Wie merkwürdig! Ich dachte, es wäre aus dieser Richtung gekommen. Deine Stickseide wurde vermutlich, wie alles andere auch, vom Regen verdorben.«
»Stickseide?«, sagte Flora. Dann erinnerte sie sich. »Ach! Ich bin gar nicht bis zum Geschäft gekommen. Es war, wie du sagst, eine törichte Idee.«
»Nun, wir können später ausgehen und alles besorgen, was du brauchst. Die Marktleute tun mir Leid! Alles, was sie in ihren Ständen hatten, wird verdorben sein. Bonifazia macht dir gerade einen Haferbrei, meine Liebe. Ich frage mich, ob ich ihr gesagt habe, die frische Milch zu nehmen?«
»Ich erinnere mich nicht, Tante.«
»Ich gehe besser und sage es ihr kurz.«
»Ich kann gehen, Tante«, sagte Flora und wollte aufstehen.
Doch davon wollte ihre Tante nichts hören. Flora musste genau da bleiben, wo sie gerade war: am Kamin, die Füße auf einem Schemel.
Von Minute zu Minute wurde es heller. Bevor sie in die Küche ging, untersuchte Tante Greysteel den Spiegel. Er war sehr groß und kunstvoll verziert; er entsprach der Art von Spiegeln, die auf der Insel Murano in der venezianischen Lagune hergestellt wurden. »Zugegebenermaßen überrascht es mich, dass dir dieser Spiegel gefällt, Flora. Er hat so viele Schnecken und Schnörkel und Glasblumen. Im Allgemeinen magst du lieber schlichte Dinge.«
Flora seufzte und sagte, sie habe, seit sie in Italien weilte, vermutlich einen Geschmack für opulente und aufwendig gearbeitete Dinge entwickelt.
»War er teuer?«, fragte Tante Greysteel. »Er sieht teuer aus.«
»Nein. Überhaupt nicht teuer.«
»Nun, wenigstens etwas, nicht wahr?«
Tante Greysteel ging nach unten in die Küche. Sie fühlte sich ziemlich erleichtert und war zuversichtlich, dass die Reihe der Schrecken und Furcht erregenden Begebenheiten, aus der der Vormittag bestanden hatte, nun vorüber war. Doch damit irrte sie sich gründlich.
Bei Bonifazia und Minichello in der Küche standen zwei Männer, die sie noch nie gesehen hatte. Bonifazia schien mit der Zubereitung von Floras Haferbrei noch nicht begonnen zu haben. Sie hatte noch nicht einmal die Haferflocken und die Milch aus der Speisekammer geholt.
Sobald Bonifazia Tante Greysteel erblickt hatte, nahm sie sie am Arm und ließ einen eifrigen Wortschwall in Paduaner Dialekt auf sie herabgehen. Sie sprach über das Gewitter – so viel war klar -und sagte, es sei schlimm, doch darüber hinaus verstand Tante Greysteel ziemlich wenig. Zu ihrem völligen Erstaunen half ihr ausgerechnet Minichello, das Gesagte zu begreifen. In einer recht vernünftigen Nachahmung der englischen Sprache sagte er: »Der englische Ssauberer es macht. Der englische Ssauberer das tempesta macht.«
»Verzeihung?«
Von Bonifazia und den beiden Männern häufig unterbrochen, unterrichtete Minichello sie, dass mitten im Gewitter mehrere Leute nach oben geschaut und einen Spalt in den schwarzen Wolken entdeckt hätten. Und was sie durch den Spalt gesehen hatten, hatte sie überrascht und erschreckt; es war nicht das klare Blau gewesen, das sie erwartet hatten, sondern ein schwarzer Himmel voller Sterne, wie er sich normalerweise um Mitternacht zeigte. Das Gewitter war alles andere als natürlich gewesen; es war ersonnen worden, um die Ankunft von Stranges Säule der Dunkelheit zu verhüllen.
Die Nachrichten waren bald
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