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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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spenden.
    »Flora, meine Liebe«, rief sie mit bebender Stimme. »Ich hoffe, du hast keine Angst. Es ist ein schrecklicher Sturm.«
    Flora trat ans Fenster, nahm die Hand ihrer Tante und sagte, dass er sicherlich bald vorbei sein würde. Ein weiterer Blitz erleuchtete die Stadt. Flora ließ die Hand ihrer Tante fallen, löste den Fensterriegel und trat entschlossen nach draußen auf den Balkon.
    »Flora!«, schrie Tante Greysteel.
    Flora stützte beide Hände auf die Balkonbrüstung und lehnte sich in die krachende Dunkelheit hinaus. Sie ließ sich weder vom Regen, der ihr Kleid durchnässte, noch vom Wind, der an ihren Haaren zerrte, beirren.
    »Meine Liebe! Flora! Flora! Komm wieder herein, es regnet so stark!«
    Flora drehte sich um und sagte etwas zu ihrer Tante, doch keiner verstand sie.
    Minichello folgte ihr auf den Balkon und schaffte es mit überraschendem Feingefühl (ohne jedoch auch nur einen Moment lang seine angeborene Düsterkeit abzulegen), sie wieder ins Zimmer zu bringen, wobei er sie mit seinen großen flachen Händen scheuchte, so wie Schäfer Schafe zwischen Zäunen durchtreiben.
    »Seht ihr es denn nicht?«, rief Flora aus. »Dort ist jemand. Dort, an der Ecke. Wisst ihr, wer das ist? Ich dachte...« Plötzlich verstummte sie, und was auch immer sie sagen wollte – sie sagte es nicht.
    »Nun, meine Liebe, ich hoffe, du täuschst dich. Ich bedaure jeden, der jetzt auf der Straße ist. Ich hoffe, sie finden so schnell wie möglich Unterschlupf. Oh, Flora, wie nass du bist!«
    Bonifazia holte Handtücher, dann begannen sie und Tante Greysteel sofort, Floras Kleid trockenzureiben. Sie drehten sie zwischen sich hin und her, und manchmal versuchte jede von ihnen, Flora in die andere Richtung zu drehen. Gleichzeitig gaben beide eilige Anweisungen an Minichello, Tante Greysteel in holprigem, aber eindringlichem Italienisch und Bonifazia in Paduas rasantem Dialekt. Die Anweisungen mochten einander, wie Floras Umdrehungen, widersprochen haben, denn Minichello tat überhaupt nichts, außer sie mit unheilvollem Blick anzusehen.
    Flora spähte über die Köpfe der beiden Frauen auf die Straße hinaus. Ein weiterer Blitz. Sie erstarrte, als hätte er sie getroffen, und im nächsten Moment wand sie sich aus den Fängen von Tante und Dienstmädchen und rannte aus dem Zimmer.
    Sie hatten keine Zeit zu überlegen, wohin sie gelaufen war. Die nächste halbe Stunde bestand aus gewaltigen Anstrengungen, die den Haushalt betrafen: Minichello versuchte, die Fensterläden gegen den Sturm zu schließen, Bonifazia stolperte auf der Suche nach Kerzen im Dunkeln herum und Tante Greysteel stellte fest, dass das italienische Wort, mit dem sie die »Fensterläden« bezeichnet hatte, eigentlich »Pergament« bedeutete. Jeder von ihnen verlor abwechselnd die Beherrschung. Tante Greysteel hatte nicht das Gefühl, dass die Lage erträglicher wurde, als alle Glocken in der Stadt gleichzeitig zu läuten begannen, dem Glauben folgend, dass Glocken (als heilige Gegenstände) Sturm und Gewitter (ganz offensichtlich Werke des Teufels) vertreiben könnten.
    Wenigstens das Haus war gesichert – oder fast. Tante Greysteel ließ Bonifazia und Minichello diese Arbeit allein beenden, und da sie sich nicht mehr daran erinnerte, dass Flora das Wohnzimmer verlassen hatte, kehrte sie dorthin zurück, um mit einer Kerze nach ihrer Nichte zu suchen. Flora war nicht da, aber Tante Greysteel stellte fest, dass Minichello die Läden dieses Zimmers immer noch nicht geschlossen hatte.
    Sie stieg die Stufen zu Floras Schlafzimmer hinauf: Dort war Flora ebenfalls nicht. Sie war auch nicht im kleinen Speisezimmer, noch in Tante Greysteels Schlafzimmer, noch in dem anderen kleineren Wohnzimmer, das sie manchmal nach dem Abendessen benutzten. Als Nächstes versuchte sie es in der Küche, im Vestibül und im Zimmer des Gärtners; Flora war nirgends zu finden.
    Tante Greysteel begann sich ernsthaft zu sorgen. Eine leise, grausame Stimme flüsterte ihr ins Ohr, dass das geheimnisvolle Schicksal von Jonathan Stranges Frau – was auch immer es gewesen sein mochte – damit begonnen hatte, dass sie äußerst unerwartet bei schlechtem Wetter verschwunden war.
    »Aber damals hat es geschneit und nicht geregnet«, sagte sie zu sich selbst. Als sie auf der Suche nach Flora im Haus herumlief, wiederholte sie dauernd vor sich hin: »Es hat geschneit, nicht geregnet. Es hat geschneit, nicht geregnet.« Dann überlegte sie: »Vielleicht war sie die ganze Zeit im

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