Jonathan Strange & Mr. Norrell
Wohnzimmer. Es war so dunkel, und sie ist so still; gut möglich, dass ich sie nicht gesehen habe.«
Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück. Ein weiterer Blitz verlieh ihm ein unnatürliches Aussehen. Die Wände wurden weiß und gespenstisch; die Möbel und anderen Gegenstände wurden grau, als hätten sie sich alle in Stein verwandelt. Vom Entsetzen gepackt, stellte Tante Greysteel fest, dass in dem Zimmer tatsächlich eine zweite Person war – eine Frau, aber nicht Flora –, eine Frau in einem dunklen altmodischen Kleid, die mit einer Kerze im Kerzenständer dastand und sie anblickte, eine Frau, deren Kopf vollkommen im Schatten verschwand und deren Gesichtszüge nicht zu erkennen waren.
Tante Greysteel durchfuhr ein kalter Schauer.
Donner krachte. Danach herrschte, mit Ausnahme der beiden Kerzenflammen, pechschwarze Dunkelheit. Doch irgendwie schien die Kerze der unbekannten Frau nichts zu erhellen. Und noch merkwürdiger war die Tatsache, dass der Raum wirkte, als sei er auf geheimnisvolle Weise größer geworden; die Frau und ihre Kerze waren seltsam weit entfernt von Tante Greysteel.
Tante Greysteel rief laut: »Wer ist da?«
Niemand antwortete.
Natürlich, dachte sie. Sie ist Italienerin. Ich muss sie noch einmal auf Italienisch fragen. Vielleicht ist sie in das falsche Haus gelaufen, weil das Gewitter sie so durcheinander gebracht hat. Doch so scharf sie auch nachdachte – in diesem Moment fiel ihr nicht ein einziges italienisches Wort ein.
Noch ein Blitz. Die Frau stand genauso wie zuvor da, das Gesicht Tante Greysteel zugewandt. Das ist der Geist von Jonathan Stranges Frau, dachte sie. Sie machte ein Schritt vorwärts, und die Frau tat dasselbe. Plötzlich erfüllten sie gleichermaßen Einsicht und Erleichterung. Es ist ein Spiegel! Ach! Wie albern, wie albern! Mich vor meinem eigenen Spiegelbild zu fürchten. Sie war so erleichtert, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte, doch dann hielt sie inne; es war nicht albern gewesen, sich zu fürchten, überhaupt nicht albern; bis eben hatte in der Ecke kein Spiegel gehangen .
Der nächste Blitz zeigte ihr den Spiegel. Er war hässlich und viel zu groß für den Raum; sie wusste, dass sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.
Sie eilte aus dem Zimmer. Sie hatte das Gefühl, klarer denken zu können, sobald sie außer Sichtweite des unheilvollen Spiegels wäre. Sie war gerade auf halber Höhe der Treppe angelangt, als sie Geräusche hörte, die aus Floras Schlafzimmer zu stammen schienen. Das veranlasste sie, die Tür zu öffnen und nachzusehen.
Flora war da. Sie hatte die Kerzen angezündet, die man ihr hingestellt hatte, und war gerade dabei, das Kleid über den Kopf zu ziehen. Es war klatschnass. Unterrock und Strümpfe sahen nicht besser aus. Ihre Schuhe waren auf den Boden neben dem Bett hingeworfen, auch sie durchnässt und schmutzig.
Flora sah ihre Tante mit einem Blick an, der Schuld, Verlegenheit, Trotz und weitere, schwer zu beschreibende Gefühle ausdrückte. »Nichts, nichts!«, sagte sie weinend.
Dies war vermutlich die Antwort auf eine Frage, die sie von ihrer Tante erwartete, doch Tante Greysteel sagte nur: »Oh, meine Liebe! Wo warst du? Was hat dich dazu gebracht, bei diesem Wetter auszugehen?«
»Ich... ich bin ausgegangen, um Stickseide zu kaufen.«
Tante Greysteel zeigte sich bei dieser Antwort offensichtlich sehr erstaunt, denn Flora fügte zweifelnd hinzu: »Ich dachte nicht, dass es so lange regnen würde.«
»Nun, meine Liebe, ich muss sagen, du hast dich ziemlich töricht benommen, aber du musst große Angst gehabt haben. Warum weinst du?«
»Weinen? Nein, nein. Du irrst dich, Tante. Ich habe nicht geweint. Das ist Regen, sonst nichts.«
»Aber du...« Tante Greysteel hielt inne. Sie wollte sagen, du weinst jetzt , doch Flora schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Aus irgendeinem Grund hatte sie ihren Schal zu einem Päckchen gefaltet, und Tante Greysteel konnte nicht umhin zu denken, dass sie den Schal besser als Schutz gegen den Regen benutzt hätte, denn dann wäre sie jetzt nicht so nass. Aus dem Päckchen zog sie eine kleine Flasche, die zur Hälfte mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war. Sie öffnete eine Schublade und legte das Fläschchen hinein.
»Flora! Etwas sehr Merkwürdiges ist passiert. Ich weiß nicht genau, wie ich es dir sagen soll, aber da gibt es einen Spiegel...«
»Ja, ich weiß«, sagte Flora rasch. »Er gehört mir.«
»Er gehört dir!« Tante Greysteel war verblüfft wie nie
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