Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
Vom Netzwerk:
bis man ihm zwei zuverlässige Burschen nannte, die gewillt wären, sie mit aufs Wasser zu nehmen. Die Männer hatten nichts dagegen, Geld von Dr. Greysteel anzunehmen, aber sie wiesen ihn freundlicherweise darauf hin, dass es dort nichts zu sehen gab; selbst bei gutem Wetter hätte es nichts zu sehen gegeben. Doch es herrschte kein gutes Wetter; es regnete – heftig genug, um eine Ausfahrt aufs Wasser ziemlich ungemütlich zu gestalten, aber nicht heftig genug, um den schweren grauen Nebel zu vertreiben.
    »Bist du sicher, meine Liebe, dass es dem entspricht, was du willst?«, fragte Tante Greysteel. »Es ist ein trostloser Ort, und das Boot riecht ziemlich stark nach Fisch.«
    »Ich bin ganz sicher, Tante«, sagte Flora, kletterte ins Boot und suchte sich einen Platz im Bug. Tante und Vater folgten ihr. Die verwirrten Fischer segelten aufs offene Meer, bis man in jeder Richtung nichts als eine wabernde Masse aus grauem Wasser sah, die von Mauern aus ödem grauem Nebel begrenzt wurde. Die Fischer sahen Dr. Greysteel erwartungsvoll an. Er wiederum blickte fragend zu Flora.
    Flora achtete auf keinen von ihnen. Sie saß da und hatte sich nachdenklich auf den Bootsrand gestützt. Ihr rechter Arm war über dem Wasser ausgestreckt.
    »Da, schon wieder!«, rief Dr. Greysteel.
    »Was schon wieder?«, fragte Tante Greysteel gereizt.
    »Der Geruch nach Katzen und Moder! Es riecht wie in dem Zimmer der alten Frau. Die alte Frau, die wir in Cannaregio besucht haben. Gibt es an Bord eine Katze?«
    Die Frage war absurd. Jeder Teil des Fischerboots war von jedem Punkt aus sichtbar; es gab keine Katze.
    »Stimmt etwas nicht, meine Liebe?«, fragte Tante Greysteel. Es gab irgendetwas an Floras Haltung, das ihr nicht so recht gefiel. »Fühlst du dich nicht wohl?«
    »Nein, Tante«, sagte Flora, reckte sich und rückte ihren Schirm zurecht. »Mir geht es gut. Wenn du möchtest, können wir jetzt zurückkehren.«
    Einen Augenblick lang sah Tante Greysteel ein kleines Fläschchen auf den Wellen treiben, ein kleines Fläschchen ohne Korken. Dann versank es im Wasser und war verschwunden.
    Diese eigenartige Expedition war das letzte Mal für mehrere Wochen, dass Flora irgendwelche Neigungen zeigte, auszugehen. Manchmal versuchte Tante Greysteel sie zu überreden, sich in einem Sessel ans Fenster zu setzen, damit sie beobachten konnte, was sich auf der Straße zutrug. Auf einer italienischen Straße passierten häufig unterhaltsame Dinge. Doch Flora saß mehr oder weniger unbewegt in einem Sessel in einer dunklen Ecke, nahe dem Furcht erregenden Spiegel; und sie machte es sich zur merkwürdigen Gewohnheit, das Bild des Zimmers, wie es der Spiegel zeigte, mit dem Zimmer zu vergleichen, wie es wirklich war. Zum Beispiel konnte sie sich plötzlich für einen Schal interessieren, der über einen Stuhl geworfen dalag, sein Spiegelbild anblicken und sagen: »Dieser Schal sieht im Spiegel anders aus.«
    »Wirklich?«, sagte Tante Greysteel dann verwirrt.
    »Ja. Im Spiegel sieht er braun aus, während er in Wahrheit blau ist. Findest du nicht?«
    »Nun, meine Liebe, ich bin sicher, du hast Recht, aber für mich sieht er in beiden Fällen gleich aus.«
    »Nein«, sagte Flora dann seufzend. »Du hast Recht.«
KAPITEL 61
Baum spricht zu Stein; Stein spricht zu Wasser
Januar bis Februar 1817
    Nachdem Mr. Norrell Stranges Buch vernichtet hatte, war die öffentliche Meinung in England einhellig gegen ihn und einhellig für Strange. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch privat wurden Vergleiche zwischen den beiden Zauberern angestellt. Strange war offenherzig, mutig und zupackend, während Mr. Norrells Charakter, so schien es, aus nichts anderem als Geheimniskrämerei bestand. Überdies hatte man nicht vergessen, dass Norrell in der Zeit, als Strange auf der Iberischen Halbinsel im Dienst seines Landes stand, sämtliche Zauberbücher aus der Bibliothek des Herzogs von Roxburghe gekauft hatte, damit kein anderer sie lesen konnte. Doch gegen Mitte Januar waren die Zeitungen voller Berichte über Stranges Wahnsinn, Beschreibungen des schwarzen Turms und Vermutungen über den Zauber, der ihn darin festhielt. Ein Engländer namens Lister war an dem Tag, an dem Strange Venedig verlassen hatte und nach Padua gekommen war, in Mestre an der italienischen Küste gewesen. Mr. Lister war zugegen, als die Säule der Dunkelheit das Meer überquerte, und hatte einen Bericht nach England geschickt; drei Wochen später erschienen in mehreren Londoner Zeitungen Artikel

Weitere Kostenlose Bücher