Jonathan Strange & Mr. Norrell
werden des Öfteren eingeladen, in anderer Leute Häuser zu übernachten. Zimmer dagegen selten.
»Womit kann ich dienen, Sir?«, fragte Stephen.
»Wie dumm du doch bist!«, rief der Herr mit dem Haar wie Distelwolle. »Weißt du denn nicht, dass Lady Pole heute Abend an einem Ball in meinem Haus teilnimmt? Mein Diener ist davongelaufen und hat sich irgendwo versteckt. Wie kann ich in diesem Zustand an der Seite der wunderschönen Lady Pole auftreten?«
Der Herr hatte Grund zur Klage: Sein Gesicht war unrasiert, sein eigenartiges Haar war zerzaust, und er war nicht gekleidet, sondern trug nur einen altmodischen Frisiermantel.
»Ich bin sofort bei Ihnen, Sir«, versicherte ihm Stephen. »Aber zuerst muss ich das Rasierzeug holen. Sie wissen nicht zufälligerweise, was Ihr Diener mit dem Rasiermesser getan hat?«
Der Herr zuckte die Achseln.
Im Raum befand sich kein Frisiertisch. Ja, es befand sich überhaupt keine nennenswerte Einrichtung darin. Da war der Spiegel, ein alter dreibeiniger Melkschemel und ein sonderbarer geschnitzter Stuhl, der aus Knochen zu sein schien. Stephen mochte nicht glauben, dass es Menschenknochen waren, wiewohl sie genau so aussahen.
Auf dem Melkschemel fand Stephen neben einer hübschen Dose ein zierliches scharfes Rasiermesser. Eine verbeulte Zinnschale mit Wasser stand auf dem Boden.
Seltsamerweise befand sich kein Kamin im Zimmer, sondern nur eine verrostete Kohlenpfanne voller heißer Kohlen, der Boden daneben war mit Asche bedeckt. Stephen erhitzte die Schale mit Wasser auf der Kohlenpfanne und rasierte den Herrn. Als er fertig war, inspizierte der Herr sein Gesicht und erklärte sich hocherfreut. Er zog den Kittel aus und stand geduldig in der Unterhose da, während Stephen ihn mit einer Borstenbürste abrieb. Stephen blieb nicht verborgen, dass dieser Herr sich nicht verfärbte, während andere Herren unter solcher Behandlung hummerrot anliefen; der einzige Unterschied war, dass seine Haut weißlich zu glühen begann wie Mondlicht oder Perlmutt.
Seine Kleider waren die feinsten, die Stephen je gesehen hatte; sein Hemd war makellos gewaschen und gebügelt, und seine Stiefel glänzten wie schwarze Spiegel. Aber am besten war das Dutzend Halstücher aus weißem Musselin, jedes so dünn wie ein Spinnennetz und so steif wie Notenpapier.
Die Toilette des Herrn dauerte insgesamt zwei Stunden, denn er war, wie Stephen feststellte, ausgesprochen eitel. Während dieser Zeit begeisterte sich der Herr mehr und mehr für Stephen. »Ich muss sagen, dass mein eigener Diener nicht halb so geschickt ist wie du, wenn es ums Frisieren geht«, erklärte er. »Und was die heikle Kunst, ein Musselinhalstuch zu binden, betrifft, tja, so versteht er gar nichts davon.«
»Nun, Sir, das ist genau die Art Aufgabe, die ich liebe«, sagte Stephen. »Ich wünschte, ich könnte Sir Walter dazu bringen, mehr Wert auf Kleidung zu legen, aber Politiker haben keine Muße, sich um so etwas Gedanken zu machen.«
Stephen half dem Herrn in den blattgrünen Rock (der von der besten Qualität und überaus modisch geschnitten war), dann ging der Herr zum Melkschemel und nahm die kleine Dose darauf in die Hand. Sie war aus Porzellan und Silber und ungefähr so groß wie eine Schnupftabakdose, aber ein bisschen länger, als Schnupftabakdosen üblicherweise sind. Stephen verlieh seiner Bewunderung für ihre Farbe Ausdruck, die nicht blassblau, aber auch nicht grau, nicht lavendel–, aber auch nicht fliederfarben war.
»Ja, wohl wahr! Sie ist wunderschön«, pflichtete der Herr ihm begeistert bei. »Und sehr schwer herzustellen. Das Pigment muss mit den Tränen alter Jungfern aus guter Familie vermischt werden, die ein langes Leben von untadeliger Tugendhaftigkeit führen und sterben müssen, ohne auch nur einen Tag glücklich gewesen zu sein.«
»Arme Damen!«, sagte Stephen. »Ich bin froh, dass es eine Rarität ist.«
»Nicht die Tränen machen sie zur Rarität – ich habe viele Flaschen voll davon –, sondern das Geschick, die Farbe zu mischen.«
Der Herr war mittlerweile so freundlich, so redselig, dass Stephen nicht zögerte zu fragen: »Und was bewahren Sie in dieser hübschen kleinen Dose auf, Sir? Schnupftabak?«
»O nein. Es ist etwas sehr Wertvolles, dass Lady Pole heute Abend auf meinem Ball tragen soll.« Er öffnete die Dose und zeigte Stephen einen kleinen weißen Finger.
Zuerst fand Stephen das ein bisschen ungewöhnlich, aber seine Überraschung legte sich gleich wieder, und wenn jemand ihn
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