Jonathan Strange & Mr. Norrell
in diesem Augenblick danach gefragt hätte, hätte er geantwortet, dass Gentlemen häufig Finger in kleinen Dosen mit sich trügen, und dies sei nur eins von vielen Exemplaren, die er gesehen hätte.
»Befindet er sich schon lange im Besitz Ihrer Familie, Sir?«, fragte er höflich.
»Nein, nicht lange.«
Der Herr klappte die Dose wieder zu und steckte sie in die Tasche.
Gemeinsam bewunderten er und Stephen sein Spiegelbild. Stephen konnte nicht umhin zu bemerken, wie vollkommen sie einander ergänzten: glänzende schwarze Haut neben schimmernder weißer Haut, beide ein Paradebeispiel für einen speziellen Typ männlicher Schönheit. Genau das Gleiche schien der Herr zu denken.
»Wie gut wir aussehen«, sagte er verwundert. »Aber jetzt begreife ich, dass ich einem schrecklichen Fehler unterlegen bin. Ich habe Sie für einen Dienstboten gehalten. Aber das ist völlig unmöglich. Ihre würdige Haltung und Ihr gutes Aussehen deuten auf adlige, wenn nicht gar königliche Abstammung hin. Ich nehme an, Sie weilen hier wie ich zu Besuch. Ich muss Sie um Verzeihung bitten, weil ich mich Ihnen aufgedrängt habe, und danke Ihnen für den großen Dienst, den Sie mir erwiesen haben, indem Sie mich für die Begegnung mit der schönen Lady Pole vorbereitet haben.«
Stephen lächelte. »Nein, Sir. Ich bin ein Dienstbote. Ich bin Sir Walters Butler.«
Der Herr mit dem Haar wie Distelwolle hob erstaunt eine Braue. »Ein so fähiger und gut aussehender Mann wie Sie sollte nicht Diener sein«, sagte er schockiert. »Er sollte Besitzer eines riesigen Anwesens sein. Wozu ist Schönheit gut, möchte ich wissen, wenn nicht als sichtbares Zeichen für die eigene Überlegenheit allen anderen gegenüber? Aber ich verstehe schon! Ihre Feinde haben sich verschworen, Ihnen all Ihre Besitztümer zu rauben und Sie unter die Unwissenden und Niedrigen zu stoßen.«
»Nein, Sir. Sie irren sich. Ich war schon immer Dienstbote.«
»Nun, das verstehe ich nicht«, erklärte der Herr mit dem Haar wie Distelwolle und schüttelte verwirrt den Kopf. »Hier liegt ein Geheimnis vor, und ich werde es gewiss ergründen, sobald ich Zeit habe. Aber weil Sie mein Haar so gut frisiert haben und für all die anderen Dienste, die Sie mir geleistet haben, lade ich Sie zu meinem Ball heute Abend ein.«
Das war ein so ungewöhnlicher Vorgang, dass Stephen einen Augenblick lang nicht wusste, was er sagen sollte. Entweder ist er verrückt, dachte er, oder er ist irgendein radikaler Politiker, der alle Rangunterschiede abschaffen will.
Laut sagte er: »Ich weiß die Ehre, die Sie mir erweisen, sehr wohl zu schätzen, Sir, aber bedenken Sie bitte! Ihre anderen Gäste erwarten, Damen und Herren ihres eigenen Standes dort anzutreffen. Wenn sie feststellen, dass sie mit einem Dienstboten verkehren, werden sie den Affront gewiss heftig empfinden. Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit, aber ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen oder Ihre Freunde verstimmen.«
Das schien den Herrn mit dem Haar wie Distelwolle noch mehr zu erstaunen. »Was für edle Gefühle!«, rief er. »Das eigene Vergnügen zu opfern, um das anderer zu bewahren. Nun, ich gebe zu, dass mir so etwas nicht im Traum einfallen würde. Und es bestärkt mich in meiner Entschlossenheit, Sie zu meinem Freund zu machen und alles in meiner Macht Stehende zu tun, um Ihnen zu helfen. Aber Sie verstehen nicht ganz. Meine Gäste, derentwegen Sie Bedenken haben, sind alle meine Vasallen und Untertanen. Unter ihnen ist nicht einer, der es wagen würde, mich zu kritisieren, oder irgend jemanden, den ich meinen Freund nenne. Und wenn sie es doch tun, na, dann können wir sie noch immer umbringen. Aber wirklich«, fügte er hinzu, als wäre er der Unterhaltung plötzlich überdrüssig, »es hat keinen Zweck, darüber zu diskutieren, da Sie ja schon hier sind.«
Und damit entfernte sich der Herr, und Stephen stand in einem großen Saal, in dem zahllose Menschen zu trauriger Musik tanzten.
Wieder war er ein wenig überrascht, aber wie zuvor gewöhnte er sich sofort daran und sah sich um. Trotz allem, was der Herr mit dem Haar wie Distelwolle zu diesem Thema gesagt hatte, befürchtete er anfänglich, erkannt zu werden. Aber nach einem Blick in die Runde war er sicher, dass keine Freunde von Sir Walter anwesend waren – ja, es war überhaupt niemand da, den Stephen kannte, und in seinen ordentlichen schwarzen Kleidern und dem sauberen weißen Hemd glaubte er, unschwer als Gentleman durchgehen zu können. Er
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