Jonathan Strange & Mr. Norrell
sehen.«
»Alfred, was redest du da?«
»Eine große Person mit einem Kopf voll silbern schimmernder Haare und mit einem grünen Rock. Er beugte sich vor, um Ihre Ladyschaft zu betrachten. Aber im nächsten Moment war niemand mehr da.«
»Alfred, schau auf diese Seite des Zimmers.«
»Ja, Mr. Black.«
»Was siehst du dort?«
»Einen Vorhang, Mr. Black.«
»Und was noch?«
»Einen Kronleuchter.«
»Ein grüner Samtvorhang und ein Kronleuchter mit brennenden Kerzen. Das ist deine Person mit dem grünen Rock und dem silbernen Haar, Alfred. Jetzt geh und hilf Cissie, das Porzellan wegzuräumen, und stell dich in Zukunft nicht mehr so dämlich an.«
Stephen Black wandte sich dem nächsten Diener zu. »Geoffrey! Du hast dich kein bisschen besser als Alfred benommen. Ich schwöre, du warst mit deinen Gedanken ganz woanders. Was hast du dazu zu sagen?«
Der arme Geoffrey antwortete nicht gleich. Er blinzelte mit den Augen, presste die Lippen zusammen und tat alles, was ein Mann gemeinhin tut, wenn er versucht, das Weinen zu unterdrücken. »Es tut mir Leid, Mr. Black, aber die Musik hat mich abgelenkt.«
»Welche Musik?«, fragte Stephen. »Da war keine Musik. Da! Hör hin! Das ist das Streichquartett, das gerade im Salon anfängt. Bis eben haben sie nicht gespielt.«
»O nein, Mr. Black! Ich meine die Flöte und die Violine, die die ganze Zeit im Nebenzimmer spielten, während die Damen und Herren zu Abend gegessen haben. Oh, Mr. Black! Es war die traurigste Musik, die ich je gehört habe. Ich dachte, sie bricht mir das Herz.«
Stephen starrte ihn verblüfft an. »Ich verstehe dich nicht«, sagte er. »Es wurde weder Flöte noch Violine gespielt.«
Er wandte sich an den letzten Diener, einen gediegen aussehenden, dunkelhaarigen Mann von etwa vierzig Jahren. »Und Robert! Ich weiß kaum, was ich zu dir sagen soll! Haben wir uns nicht erst gestern unterhalten?«
»Doch, Mr. Black.«
»Habe ich dir nicht gesagt, wie sehr ich mich darauf verlasse, dass du den anderen ein gutes Beispiel bist?«
»Ja, Mr. Black.«
»Trotzdem bist du heute Abend etwa fünfmal ans Fenster gegangen! Was hast du dir dabei gedacht? Lady Winsell hat sich nach jemandem umgesehen, der ihr ein sauberes Glas bringen würde. Du solltest dich um den Tisch kümmern, um die Gäste Ihrer Ladyschaft, und nicht um das Fenster.«
»Es tut mir Leid, Mr. Black, aber ich habe am Fenster ein Klopfen gehört.«
»Ein Klopfen? Was für ein Klopfen?«
»Zweige, die gegen die Scheibe schlugen, Mr. Black.«
Stephen Black machte eine kleine ungeduldige Geste. »Aber Robert, so nah am Haus gibt es keinen Baum! Das weißt du ganz genau.«
»Ich glaubte, ein Wald sei um das Haus herum gewachsen«, sagte Robert.
»Was?«, rief Stephen.
KAPITEL 16
Verlorene Hoffnung
Januar 1808
Die Dienstboten in der Harley Street glaubten weiterhin, unheimliche Dinge zu sehen und klagende Laute zu hören. Der Koch, John Longridge, und die Küchenmädchen wurden von einer traurig klingenden Glocke gequält. Die Wirkung der Glocke bestand darin, erklärte John Longridge Stephen Black, dass sich alle, die sie hörten, lebhaft an die Verstorbenen erinnerten, die sie gekannt hatten, an all das Gute, das sie verloren hatten, und an all das Schlechte, das ihnen widerfahren war. Infolgedessen waren sie niedergeschlagen und bedrückt und freuten sich des Lebens nicht mehr.
Geoffrey und Alfred, die zwei jüngsten Diener, wurden gepeinigt vom Klang der Flöte und der Violine, den Geoffrey zum ersten Mal am Abend der Dinnerparty gehört hatte. Die Musik schien immer aus dem Zimmer nebenan zu kommen. Stephen ging mit ihnen durch das ganze Haus, um ihnen zu beweisen, dass niemand irgendwo auf diesen Instrumenten spielte, aber es nützte nichts; sie waren weiterhin ängstlich und unglücklich.
Am verwirrendsten jedoch war nach Stephens Ansicht das Verhalten von Robert, dem ältesten Dienstboten. Von Anfang an war Robert Stephen als vernünftiger, gewissenhafter, zuverlässiger Mann erschienen, kurz, als die letzte Person, die eingebildeten Ängsten zum Opfer fallen würde. Aber Robert bestand nach wie vor darauf, dass er einen unsichtbaren Wald um das Haus herum wachsen hörte. Wann immer er in der Arbeit innehielt, hörte er geisterhafte Äste an den Mauern kratzen und an die Fenster klopfen, Wurzeln sich heimlich unter die Fundamente schieben und Ziegelsteine auseinander stemmen. Der Wald sei alt, sagte Robert, und böse. Jemand, der durch den Wald ginge, habe von den Bäumen
Weitere Kostenlose Bücher