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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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augenblicklich nach Mr. Baillie.
    Mr. Baillie war ein Herr aus Schottland und galt seit langem als der beste Vertreter seiner Zunft in London. Er hatte viele Bücher mit bedeutend klingenden Titeln verfasst, und er war Außerordentlicher Arzt des Königs. Er hatte ein empfindsames Gesicht und trug als Zeichen seiner bevorzugten Stellung einen Stock mit goldenem Knauf. Er kam Sir Walters Ruf sofort nach, weil er unbedingt die Überlegenheit der Medizin gegenüber der Magie beweisen wollte. Nachdem er Lady Pole gründlich untersucht hatte, erklärte er, dass Ihre Ladyschaft sich ausgezeichneter Gesundheit erfreue. Sie habe nicht einmal eine Erkältung.
    Sir Walter schilderte noch einmal, wie anders sie heute im Vergleich zu den vergangenen Tagen sei.
    Mr. Baillie betrachtete Sir Walter nachdenklich. Er meinte, das Problem erkannt zu haben. Sir Walter und Ihre Ladyschaft waren noch nicht lange verheiratet, nicht wahr? Nun, Sir Walter möge ihm vergeben, aber Ärzte waren oft verpflichtet, Dinge auszusprechen, die andere Leute nicht aussprachen. Sir Walter war nicht an das Eheleben gewöhnt. Bald würde er feststellen, dass verheiratete Menschen bisweilen unterschiedlicher Meinung waren. Dessen musste man sich nicht schämen – sogar die glücklichsten Paare stritten sich manchmal, und in diesem Fall war es nicht ungewöhnlich, dass ein Partner vorgab, indisponiert zu sein. Es war auch nicht immer die Dame, die sich so verhielt. Gab es vielleicht etwas, was sich Lady Pole in den Kopf gesetzt hatte? Handelte es sich um eine Kleinigkeit, ein neues Kleid oder einen neuen Hut zum Beispiel, warum ihr nicht ihren Willen lassen, wenn sie es sich so sehr wünschte? War es etwas Größeres wie ein Haus oder eine Reise nach Schottland, dann wäre es vielleicht am besten, mit ihr darüber zu sprechen. Mr. Baillie war sicher, dass Ihre Ladyschaft keine unvernünftige Person war.
    Sir Walter blickte eine Weile an seiner langen Nase hinunter auf Mr. Baillie. »Ihre Ladyschaft und ich haben nicht gestritten«, sagte er schließlich.
    Aha, sagte Mr. Baillie freundlich. Sir Walter könne sehr wohl den Eindruck haben, dass kein Streit stattgefunden habe. Häufig achteten die Herren nicht auf die entsprechenden Anzeichen. Mr. Baillie riet Sir Walter, gründlich nachzudenken. Hatte er vielleicht etwas gesagt, was Ihre Ladyschaft verärgert hatte? Mr. Baillie sprach nicht von Schuld. Diese Dinge gehörten zu den kleinen Anpassungen, die verheiratete Leute zu Beginn ihres gemeinsamen Lebens vornehmen mussten.
    »Aber es entspricht nicht Lady Poles Charakter, sich wie ein verwöhntes Kind zu benehmen!«
    Zweifellos, zweifellos, meinte Mr. Baillie. Aber Ihre Ladyschaft war sehr jung, und jungen Menschen musste man gewisse Eskapaden gestatten. Junge Leute waren nicht vernünftig. Damit sollte Sir Walter nicht rechnen. Mr. Baillie erwärmte sich für sein Thema. Er wusste Beispiele (aus der Geschichte und aus der Literatur) von vernünftigen, klugen Männern und Frauen, die alle in ihrer Jugend Dummheiten begangen hatten; ein Blick auf Sir Walters Miene überzeugte ihn jedoch davon, das Thema nicht weiter zu verfolgen.
    Sir Walter befand sich in einer ähnlichen Lage. Auch er wusste einiges und hätte gern manches davon gesagt, aber er glaubte, sich auf unsicherem Boden zu bewegen. Ein Mann, der im Alter von zweiundvierzig Jahren zum ersten Mal heiratet, weiß nur zu gut, dass alle seine Bekannten besser als er qualifiziert sind, seine häuslichen Angelegenheiten zu regeln. Deswegen begnügte sich Sir Walter damit, die Stirn zu runzeln. Dann rief er, da es fast elf Uhr war, nach seiner Kutsche und seinem Sekretär und fuhr zum Burlington House, wo er mit den anderen Ministern verabredet war.
    Im Burlington House schritt er durch säulengesäumte Höfe und vergoldete Vorzimmer. Er stieg unter bemalten Decken, auf denen zahllose Götter, Göttinnen, Helden und Nymphen aus blauen Himmeln taumelten oder sich auf flauschigen weißen Wolken räkelten, große Marmortreppen hinauf. Scharen von gepuderten und livrierten Dienern verneigten sich vor ihm, bis er den Raum betrat, in dem die Minister Akten studierten und miteinander stritten.
    »Aber warum schicken Sie nicht nach Mr. Norrell, Sir Walter?«, fragte Mr. Canning, als er hörte, was geschehen war. »Ich wundere mich, dass Sie es nicht bereits getan haben. Ich bin sicher, dass die Indisposition Ihrer Ladyschaft sich als nichts weiter erweisen wird denn als kleine Unregelmäßigkeit im Zauber, der

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