Jonathan Strange & Mr. Norrell
Licht durch die Spalten in den Fensterläden nach draußen dringen und schloss daraus, dass jemand sich darin befinden müsse. Da er Tee und Zucker brauchte, klopfte er an die Tür.
»Ein Kunde, Toby«, rief Mrs. Brandy.
Toby öffnete hastig die Tür, und John legte das Geld in die Kassette. In dem Moment, als er den Deckel schloss, wurde es dunkel im Raum, und erst jetzt wurde ihnen klar, dass sie sich nur im Schein der eigenartigen Münzen gesehen hatten. John zündete erneut die Lampen an, so dass der Laden wieder anheimelnd wirkte, und Toby wog die Dinge ab, die der Kunde haben wollte.
Stephen Black ließ sich auf einen Stuhl sinken und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er sah grau und todmüde aus.
Mrs. Brandy setzte sich auf den Stuhl neben ihm und berührte ganz sanft seine Hand. »Sie fühlen sich nicht wohl, mein lieber Mr. Black.«
»Mir tut alles weh – als hätte ich die ganze Nacht getanzt.« Wieder seufzte er und stützte den Kopf in die Hand.
Mrs. Brandy zog ihre Hand zurück. »Ich wusste nicht, dass gestern Abend ein Ball stattgefunden hat.« In ihrem Tonfall schwang ein klein bisschen Eifersucht mit. »Ich hoffe, Sie haben sich köstlich amüsiert. Wer waren Ihre Partnerinnen?«
»Nein, nein. Ich war auf keinem Ball. Ich habe Schmerzen, als hätte ich getanzt, aber ich hatte gar nicht das Vergnügen.« Er hob abrupt den Kopf. »Hören Sie das?«, fragte er.
»Was, Mr. Black?«
»Die Glocke. Die für die Toten schlägt.«
Sie horchte einen Augenblick. »Nein, ich höre nichts. Ich hoffe, Sie bleiben zum Essen, mein lieber Mr. Black? Es wäre uns eine große Ehre. Leider wird es kein sehr elegantes Essen werden. Wir haben kaum etwas hier. So gut wie nichts. Nur ein paar gedünstete Austern und eine Taubenpastete und Hammelragout. Aber ein alter Freund wie Sie wird gewiss Nachsicht üben. Toby kann ...«
»Sind Sie sicher, dass Sie sie nicht hören?«
»Ja.«
»Ich kann nicht bleiben.« Er blickte drein, als wollte er noch etwas sagen, ja, er öffnete den Mund, um es auszusprechen, aber wieder schien die Glocke seine Aufmerksamkeit zu beanspruchen, und er schwieg. »Ich wünsche einen guten Abend.« Er stand auf, deutete rasch eine Verbeugung an und verließ den Laden.
In der St. James's Street läutete die Glocke weiter. Er ging wie ein Mann im Nebel. Gerade hatte er Piccadilly erreicht, als ein Dienstmann mit Schürze und einem Korb voller Fische hastig aus einer kleinen Seitenstraße kam. In dem Versuch, dem Dienstmann auszuweichen, stieß Stephen mit einem korpulenten Herrn in einem blauen Überzieher und einem Bedford-Hut zusammen, der an der Ecke zur Abermarie Street stand.
Der korpulente Herr drehte sich um und erblickte Stephen. Augenblicklich war er alarmiert; er sah dicht vor sich ein schwarzes Gesicht und schwarze Hände nahe an seinen Taschen und Wertgegenständen. Er achtete nicht auf Stephens teure Kleidung und respektable Erscheinung, sondern hob sofort – überzeugt, dass er ausgeraubt oder niedergeschlagen werden sollte – seinen Regenschirm, um zu seiner Verteidigung selbst zuzuschlagen.
Das war der Moment, den Stephen sein Leben lang gefürchtet hatte. Er nahm an, dass Wachtmeister gerufen würden und er vor einen Richter geschleift würde, und wahrscheinlich würden ihn auch die Fürsprache und Freundschaft von Sir Walter Pole nicht retten. Konnten sich englische Geschworene einen schwarzen Mann vorstellen, der nicht stahl und log? Einen schwarzen Mann, der eine achtbare Person war? Es erschien ihm nicht sehr wahrscheinlich. Aber jetzt, da ihn sein Schicksal ereilt hatte, musste Stephen feststellen, dass es ihm nahezu gleichgültig war, und er sah zu, wie die Ereignisse vonstatten gingen, als würde er ein Theaterstück durch ein dickes Glas oder ein Bild am Grund eines Teichs betrachten.
Der korpulente Herr riss vor Angst, Zorn und Empörung die Augen weit auf. Er öffnete den Mund, um Stephen zu beschuldigen, aber in diesem Augenblick begann er sich zu verwandeln. Sein Körper wurde zu einem Baumstamm; in alle Richtungen wuchsen ihm Arme, und aus den Armen wurden Äste; sein Gesicht wurde zu einem Astloch, und er schoss sieben Meter in die Höhe; wo sein Hut und Schirm gewesen waren, befand sich jetzt eine dichte Laubkrone.
Eine Eiche in Piccadilly, dachte Stephen, nicht sonderlich interessiert. Das ist ungewöhnlich.
Auch Piccadilly veränderte sich. Eine Kutsche fuhr vorbei. Sie musste einer bedeutenden Person gehören, denn es saß nicht nur ein
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