Jonathan Strange & Mr. Norrell
sie ins Leben zurückgeholt hat. Mr. Norrell kann eine kleine Anpassung vornehmen, und Ihrer Ladyschaft wird es wieder gut gehen.«
»So ist es«, pflichtete Lord Castlereagh bei. »Mir scheint, Lady Pole hat den Wirkungsbereich von Ärzten verlassen. Sie und ich, Sir Walter, sind dank der Gnade Gottes auf dieser Welt, aber Ihre Ladyschaft ist dank Mr. Norrells Gnade hier. Ihr Leben unterliegt anderen Gesetzen als das unsere – in theologischer und, so meine ich, in medizinischer Hinsicht.«
»Wann immer Mrs. Perceval sich nicht wohl fühlt«, warf Mr. Perceval ein, ein kleiner, akkurater Advokat von unauffälligem Aussehen und unauffälligen Manieren, der die hohe Stellung des Finanzministers innehatte, »wende ich mich als Erstes an ihre Zofe. Wer kennt schließlich den gesundheitlichen Zustand einer Dame besser als ihre Zofe? Was sagt Lady Poles Zofe?«
Sir Walter schüttelte den Kopf. »Pampisford ist genauso ratlos wie ich. Sie stimmt mit mir überein, dass Ihre Ladyschaft sich noch vor zwei Tagen exzellenter Gesundheit erfreute, und jetzt ist sie blass, teilnahmslos, unglücklich und friert. Mehr hat Pampisford nicht zu sagen. Das und jede Menge Unsinn, dass es im Haus spukt. Ich weiß nicht, was zurzeit mit der Dienerschaft los ist. Sie verhalten sich alle merkwürdig und sind nervös. Einer der Diener kam heute Morgen mit der Geschichte zu mir, dass er um Mitternacht jemanden auf der Treppe getroffen hätte. Eine Person in einem grünen Rock und mit einem dichten Schopf bleichen silbrigen Haars.«
»Was? Ein Gespenst? Eine Erscheinung?«, fragte Lord Hawkesbury.
»Ich glaube, das meinte er, ja.«
»Wie ungewöhnlich. Hat es etwas gesagt?«, fragte Mr. Canning.
»Nein. Goeffrey hat gesagt, dass es ihm einen kalten verächtlichen Blick zugeworfen hat und weitergegangen ist.«
»Ach, Ihr Diener hat geträumt, Sir Walter. Er hat bestimmt nur geträumt«, sagte Mr. Perceval.
»Oder er war betrunken«, schlug Mr. Canning vor.
»Ja, daran habe ich auch gedacht. Deswegen habe ich selbstverständlich Stephen Black gefragt«, sagte Sir Walter. »Aber Stephen verhält sich so töricht wie die anderen. Ich kann ihn kaum dazu bringen, mit mir zu sprechen.«
»Nun«, sagte Mr. Canning, »ich denke, Sie werden nicht leugnen, dass alle diese Vorkommnisse an Zauberei gemahnen, nicht wahr? Und ist es nicht Mr. Norrells Aufgabe zu erklären, was andere Leute nicht erklären können? Schicken Sie nach Mr. Norrell, Sir Walter.«
Das war ein so vernünftiger Vorschlag, dass Sir Walter sich fragte, warum er nicht selbst daran gedacht hatte. Er hatte die beste Meinung von seinen eigenen Fähigkeiten und glaubte nicht, dass er normalerweise eine so offensichtliche Möglichkeit übersehen würde. Die Wahrheit war, so wurde ihm klar, dass er Zauberei eigentlich nicht mochte . Er hatte sie noch nie gemocht – nicht zu Beginn, als er sie für Schwindel gehalten hatte, und nicht jetzt, da sie sich als real erwiesen hatte. Aber das konnte er den anderen Ministern schlecht erklären, schließlich war er es gewesen, der sie dazu überredet hatte, zum ersten Mal seit zweihundert Jahren die Dienste eines Zauberers in Anspruch zu nehmen.
Um halb vier kehrte er in die Harley Street zurück. Es war die unheimlichste Stunde an einem Wintertag. Die Dämmerung verwandelte alle Gebäude und Menschen in ein verschwommenes schwarzes Nichts, während der Himmel noch von einem Schwindel erregenden Silberblau und voll von kaltem Licht war. Der winterliche Sonnenuntergang tauchte das Ende aller Straßen in ein rosen- und blutfarbenes Licht – das Auge freute sich daran, aber das Herz fröstelte. Während Sir Walter aus dem Kutschenfenster blickte, schätzte er sich glücklich, dass er kein fantasiebegabter Mensch war. Jemand anders wäre vielleicht höchst beunruhigt gewesen von der Verbindung zu der unangenehmen Aufgabe, einen Zauberer zu Rate zu ziehen, mit diesen seltsamen schwarzblutig verschwimmenden Londoner Straßen.
Geoffrey öffnete die Tür in der Harley Street 9, und Sir Walter eilte die Treppe hinauf. Im ersten Stock kam er an dem venezianischen Salon vorbei, in dem Ihre Ladyschaft am Morgen gesessen hatte. Eine Art Vorahnung veranlasste ihn, hineinzublicken. Zuerst schien ihm, als befände sich niemand darin. Das Feuer war heruntergebrannt und verursachte eine Art zweiter Dämmerung im Zimmer. Niemand hatte bislang eine Lampe oder die Kerzen entzündet. Und dann sah er sie.
Sie saß vollkommen aufrecht auf einem Stuhl am
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