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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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Kutscher auf dem Kutschbock, sondern zwei livrierte Diener standen hinten darauf; auf der Tür prangte ein Wappen, und vier Grauschimmel zogen sie. Vor Stephens Augen wurden die Pferde größer und dünner, bis sie vollständig zu verschwinden schienen, und an diesem Punkt verwandelten sie sich in einen Hain schlanker silberner Birken. Die Kutsche wurde zu einem Stechpalmenstrauch, und der Kutscher und die Diener wurden zu einer Eule und zwei Nachtigallen, die prompt davonflogen. Einer Dame und einem Herrn, die gemeinsam vorübergingen, wuchsen Zweige, und sie verwandelten sich in einen Holunderbusch, ein Hund wurde zu einem ausgefransten vertrockneten Farn. Die Gaslaternen wurden in den Himmel gesogen und zu Sternen zwischen den Ästen der winterlichen Bäume, und Piccadilly selbst schrumpfte zu einem kaum sichtbaren Pfad durch einen dunklen Winterwald.
    Aber wie in einem Traum, in dem die ungewöhnlichsten Ereignisse ganz erklärlich und vernünftig erscheinen, wunderte Stephen sich überhaupt nicht. Vielmehr schien ihm, als wüsste er seit jeher, dass sich Piccadilly ganz in der Nähe eines Zauberwalds befand.
    Er begann den Pfad entlangzugehen.
    Der Wald war sehr dunkel und still. Die Sterne über seinem Kopf waren die hellsten, die er je gesehen hatte, und die Bäume waren nicht mehr als schwarze Schemen dort, wo keine Sterne waren.
    Das dicke graue Unwohlsein und der Stumpfsinn, die den ganzen Tag auf seinem Geist und seinen Gedanken gelastet hatten, verschwanden, und er begann über den seltsamen Traum der vergangenen Nacht nachzudenken, in dem er einen merkwürdigen grün berockten Mann mit Haar wie Distelwolle kennen gelernt und in dessen Haus die ganze Nacht mit den seltsamsten Menschen getanzt hatte.
    Die traurige Glocke klang im Wald viel klarer als in London, und Stephen folgte ihrem Klang den Pfad entlang. In kürzester Zeit stand er vor einem riesigen Haus aus Steinen mit tausend Fenstern. Ein schwaches Licht drang aus ein paar dieser Öffnungen. Das Haus war von einer hohen Mauer umgeben. Stephen ging durch die Mauer (er begriff zwar nicht wie, denn er sah nirgendwo ein Tor) und fand sich in einem großen trostlosen Hof wieder, in dem Totenschädel, gebrochene Knochen und rostige Waffen herumlagen, als befänden sie sich schon seit Jahrhunderten hier. Trotz der Größe und Pracht des Hauses bestand der einzige Eingang in einer niedrigen kleinen Tür, und Stephen musste sich bücken, um eintreten zu können. Sofort sah er eine große Menge Menschen in den schönsten Kleidern.
    Neben der Tür standen zwei Herren. Sie trugen elegante schwarze Röcke, tadellose weiße Strümpfe und Handschuhe und Halbschuhe zum Tanzen. Sie sprachen miteinander, aber als Stephen eintrat, wandte der eine Herr sich um und lächelte.
    »Ah, Stephen Black«, sagte er. »Wir haben auf Sie gewartet.«
    Und in diesem Augenblick hoben die Violine und die Flöte erneut an.
KAPITEL 18
Sir Walter berät sich mit Herren
unterschiedlicher Berufsstände
Februar 1808
    Lady Pole saß am Fenster, blass und ernst. Sie sprach nur wenig, und wann immer sie etwas sagte, waren ihre Bemerkungen befremdlich und nicht zur Sache gehörig. Als ihr Mann und ihre Freunde sich besorgt erkundigten, was denn mit ihr sei, erwiderte sie, dass sie des Tanzens überdrüssig sei und nie wieder tanzen wolle. Und Musik sei das Abscheulichste auf der Welt – sie wundere sich, dass ihr das nicht früher aufgefallen sei.
    Sir Walter betrachtete ihr Schweigen und ihre Gleichgültigkeit als höchst beunruhigend. Ihr Zustand glich zu sehr der Krankheit, die Ihrer Ladyschaft vor der Heirat so großes Leiden verursacht und tragischerweise mit ihrem frühen Tod geendet hatte. War sie nicht auch damals blass gewesen? Nun, jetzt war sie blass. Hatte sie nicht auch damals gefroren? Jetzt fror sie wieder.
    Während der früheren Krankheit Ihrer Ladyschaft war kein Arzt zu Rate gezogen worden, und selbstverständlich fassten die Ärzte dies als Beleidigung ihres Berufsstands auf. »Nun ja«, sagten sie, wann immer Lady Poles Name fiel, »der Zauber, der sie ins Leben zurückrief, war zweifellos großartig, wären jedoch rechtzeitig die richtigen Arzneien verordnet worden, wäre der Zauber überhaupt nicht nötig gewesen.«
    Mr. Lascelles hatte Recht gehabt, als er die Schuld dafür ausschließlich Mrs. Wintertowne gab. Sie hasste Ärzte und hatte nicht zugelassen, dass sich einer von ihnen ihrer Tochter annahm. Sir Walter jedoch war frei von diesem Vorurteil; er schickte

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