Jones, Diana Wynne
den Holzschuppen, um das Boot herauszuschieben und für das Beladen vorzubereiten.
Kaum öffneten wir die Tür, als das Wasser auch schon aus dem Holzschuppen schwappte. Träge, stark und geschmeidig wie gelbe Seide umspülte es unsere Fußgelenke und leckte mit gekräuselter Oberfläche ins Wohnzimmer. Im Verschlag stand das Wasser bis an die Oberkante der Stufe, und genauso hoch lag auch das Boot. Aus unseren erschrockenen Spiegelbildern auf dem Wasser strahlte das Licht unserer Laterne zurück.
»Weißt du was?«, sagte Hern. »Wir beladen es hier drin und rudern es danach einfach nach draußen.«
Vom Lampenschein geblendet, sah ich zur Tür. Ich hielt meine Augen zu tief, denn ich sah unwillkürlich dorthin, wo gewöhnlich das Land zum Strom hin abfällt, und erlebte einen dieser Momente, in denen man nicht weiß, was man erblickt. Ich sah einen langen, hellen Streifen, und in diesem Streifen bewegte sich etwas Geschmeidiges. Ich dachte, jemand hätte mich aus meinem Kopf entführt und irgendwo in schwindelnder Leere ausgesetzt. Da stand ich, unter meinen eigenen Füßen auf den Kopf gestellt – ein Haargestrüpp und eigentümliche, scheue Augen. Ob Gull sich genauso fühlt?, fragte ich mich.
Entchen gefiel der Anblick genauso wenig wie mir. »Oben ist Wasser, und da gehört eigentlich die Luft hin«, rief er, watete herbei und versuchte, die Tür wieder zu schließen.
Hern war der Einzige von uns, dem es gelang, die Tür gegen die Kraft des Wassers zuzudrücken. Ich vergesse immer, wie stark Hern ist. Wenn ihr ihn sehen könntet, würdet ihr gar nicht glauben, welche Kraft er besitzt. Er ist lang und dünn und lässt ein wenig die Schultern hängen, wie der Reiher, von dem er seinen Namen hat.
Wir zankten uns lange, womit wir das Boot am besten beluden, und deshalb stiegen wir anfangs die Leiter zum Heuboden viel zu oft hinauf und hinunter. Robin sagte, wir sollten die Äpfel mitnehmen, und Hern entgegnete, das Obst aus dem vergangenen Jahr hänge ihm zum Halse heraus. So ging es die ganze Zeit. Wir stritten, weil keiner von uns wirklich fort wollte. Allerdings wurden wir zusehends aufgeregter, und das Beladen ging schneller und schneller vonstatten. Hern räumte die Deckskästen ein und erteilte Befehle, wir Übrigen rannten von hier nach dort und versuchten, an alles zu denken. Wir packten so viele Töpfe und Pfannen ins Boot, dass wir am Ende nichts mehr hatten, worin wir uns ein warmes Frühstück zubereiten konnten, und es waren fast keine Lebensmittel mehr übrig. Wir mussten uns mit Brot und Käse begnügen.
Robin weckte Gull und zog ihn warm an. Wir anderen trugen unsere dicken alten wasserdichten Wollmäntel, die ich nur anfertige, wenn sie wirklich gebraucht werden, denn ich muss sie doppelt weben, und das dauert Wochen. Mein Alltagskleid war durchtränkt, und ich wollte mein gutes nicht verderben. Außerdem hatte ich während der Nacht schon genug im Wasser herumgeplatscht. Deshalb hatte ich mir Herns alte Sachen übergestreift und versuchte Robin zu überreden, alte Kleidung von Gull anzuziehen. Noch ein Jahr zuvor wäre sie einverstanden gewesen, ausgerechnet jetzt aber musste sie sich damenhaft geben und ihr schreckliches altes blaues Kleid anbehalten – ausgerechnet das, bei dem ich mich verwebt habe, sodass das Muster nicht aufgeht.
Der einzige warme Wollmantel in Gulls Größe, den wir fanden, gehörte unserem Vater; meine Mutter hatte ihn für ihn gewebt, bevor sie heirateten. Meine Mutter ist eine Meisterweberin gewesen. Der Mantel erzählt die Geschichte von Halian Tan Haleth, dem Herrn der Bergflüsse, und ist so schön, dass ich gar nicht hinsehen konnte, als Robin Gull zum Tisch führte. Mir tat es in der Seele weh, den himmelweiten Unterschied zwischen Mutters Meisterwerk und Robins verschandeltem blauen Kleid in solcher Deutlichkeit sehen zu müssen.
Während wir Gull anzogen, kam mir in den Sinn, dass es ihm gar nicht so schlecht ging, wie ich gedacht hatte. Hin und wieder lächelte er und fragte in ganz vernünftigem Ton, ob wir an Angelzeug und Ersatzstifte für den Mast gedacht hätten. Nur dass er so ins Leere starrte und sich offenbar nicht ohne Hilfe ankleiden konnte, bestürzte mich. Ob er blind ist?, fragte ich mich. Fast wollte es mir so scheinen.
Ich überprüfte es beim Frühstück, indem ich Gull eine Scheibe Brot vors Gesicht schob. Gull blinzelte und wich mit dem Kopf aus. Aber weder forderte er mich auf, den Unsinn sein zu lassen, noch fragte er, was das
Weitere Kostenlose Bücher