Jones, Diana Wynne
Tanaqui?«
»Er hat im Krieg Schlimmes durchgemacht«, sagte ich.
Entchen marschierte von irgendwo herbei. Wie üblich trug er die Dame am Kopf. »Nein, das ist es nicht«, sagte er. »Das hat Onkel Falk doch gesagt. Die Heiden haben ihn verzaubert, und jetzt wollen sie, dass er zum Meer fährt.«
»Ich glaube nicht, dass es sich gerade so verhält, Entchen«, sagte Robin mit besorgter Miene. »Tanaqui, ich habe etwas geträumt…«
Doch bis zum heutigen Tag kenne ich ihren Traum nicht, denn in diesem Augenblick kam Hern zurückgeeilt und verkündete munter, dass wir das andere Ende des Sees bis zum Abend erreichen könnten, und darüber muss Robin vergessen haben, ihn mir zu erzählen. Was immer sie geträumt hat, es machte sie froh, denn nach ihrem Traum fürchtete sie sich längst nicht mehr sosehr vor dem See.
Riesig ist er, dieser See. Wir befuhren ihn für den Rest dieses und die Hälfte des nächsten Tages. Hinter der Insel verbreiterte er sich sogar noch, bis wir kaum noch das andere Ufer sehen konnten. Wir entdeckten eine Vielzahl weiterer Inseln und lernten rasch, uns von ihnen fern zu halten, denn unser Schwert verfing sich leicht in Bäumen oder Büschen, die vor dem Hochwasser an ihrem Rande gewachsen waren. Wir entkamen einmal glücklich einem Busch und ein anderes Mal einem großen abgerissenen Ast, der im Wasser trieb und den ich durch das Segel nicht rechtzeitig sehen konnte.
Ich glaube, die Ufer des Sees müssen recht dicht besiedelt gewesen sein, bevor die Heiden einfielen. Immer wieder sahen wir treibende Planken und Feuerholzscheite, Hühnerkäfige, Fässer und Stühle. Entchen entdeckte zwei ertrunkene Katzen, ich einen toten Hund. Außer Gull sahen wir alle die Leiche. Das war am schlimmsten. Wir fuhren sehr dicht heran, weil Robin steif und fest behauptete, die Person sei noch am Leben, bis wir sahen, dass nur die Wellen sie bewegten. Wir glaubten, dass es ein Mädchen war, aber sie war so klein und trug solch fremdartige Kleidung, dass wir uns nicht sicher sein konnten. Das Wasser hatte ihr langes Haar gebräunt, aber wir sahen deutlich, dass es hell und lockig gewesen war.
»Das ist eine Heidin«, sagte Entchen. Mit der Stake drehte er die Leiche um. Die Kehle war ihr durchschnitten worden. Entchen schob sie rasch mit der Stake von sich, dann übergab er sich. Wir fühlten uns alle schrecklich. Keiner von uns sagte ein Wort, aber wir wussten, dass wir auf keinen Fall unseren eigenen Landsleuten in die Hände fallen durften. Die Leiche sah genauso aus wie wir.
Doch auf der ganzen Länge des Sees begegneten wir keinem lebenden Menschen. Das ein oder andere Mal glaubten wir, noch eine Leiche treiben zu sehen, aber wir näherten uns ihnen nicht. Außer uns fuhr niemand auf dem Wasser. Noch am gleichen Tag begann es zu regnen. Eine große purpurne Wolke hing niedriger als der restliche Himmel über uns, und Regen sprühte daraus auf uns hernieder. Hinter uns glitzerte der See silbrig in der Sonne, und vor uns stach ein gewaltiger Regenbogen zwischen die grünen Kiefern, die vereinzelt auf einer Landspitze wuchsen, und tauchte zu ihren Wurzeln in den See. Durch die Farben des Regenbogens hindurch sahen wir, dass die Bäume von der Sonne beschienen wurden. Über uns aber hing die Regenwolke. »Genau wie unsere Pechsträhne«, sagte Entchen düster.
Die Landspitze lag weit von uns entfernt. Als wir sie erreichten, dämmerte es bereits, und so beschlossen wir, hier für die Nacht festzumachen. Gull protestierte, doch daran gewöhnten wir uns allmählich.
»Es tut mir Leid, Gull«, sagte Robin. »Wir müssen die Nacht über hier bleiben.« Für Robins Verhältnisse war dieser Satz stählern und unnachgiebig.
Gull wollte das Boot nicht verlassen. Wir zerrten und schoben alle an ihm, aber er bewegte sich nicht. Am Ende mussten wir das Boot um die Landspitze herum an eine Stelle staken, wo es vor dem Wind geschützt war. Gemeinsam zogen wir es an Land, obwohl Gull noch immer darin lag. Wir taten das, weil wir befürchteten, er könnte mit dem Boot weiterfahren, während wir zu Abend aßen. An dieser Stelle fiel das Land zurück, und ein sumpfiger Bach mündete in den See, der dem Wasserlauf ein gutes Stück entgegengekommen war. Nirgendwo fanden wir ein trockenes Fleckchen Erde. Binsen aller Arten wuchsen überall, und die Fahnenlilien waren schon grün. Um ihre Wurzeln gurgelte braunes Wasser. Der Abend war erfüllt vom Duft hochgewachsener Tanaqui und dem Geruch nach feuchtem Rauch. Robin
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