Jones, Diana Wynne
Tanamil holte unter seinem Wollmantel eine schlanke rötliche Flöte hervor, die aus einem Bündel dünner Schilfrohre zu bestehen schien, und begann darauf zu spielen. Nach den ersten Tönen blickte Hern, der mürrisch begonnen hatte, Schilf zu flechten, mit gefesselter Miene auf. Tanamil spielte eine traurige, schluchzende Weise, in die er jedoch auch eine heitere, fröhliche Melodie einzuflechten wusste. Die Töne flossen dahin, liefen ineinander, verschmolzen und flossen singend weiter. Ich sah, wie Entchen den Mund aufsperrte und Robin ein verzückter Ausdruck ins Gesicht trat. Tanamil verstand es, die Flöte wie Glöckchen klingeln und wie Wasser plätschern zu lassen. In seinem Spiel spürte ich den Frühling, wie er überall am Strom die Natur erblühen lässt, und doch ging es um den Frühling in der Zukunft, der noch dem traurigen Winter unterlag. Ich hoffte, das Lied würde niemals aufhören. Ich wollte, dass es für immer weiterlief wie der Strom.
Ich blickte auf die rote Figur, die Gull darstellte, die auf dem Weg stand. Sie trocknete. Ich konnte zusehen, wie sie einen rosa Farbton annahm, ein wenig schrumpfte, sich ein wenig abschälte und mit jedem Augenblick sichtlich fester wurde. Ich hätte schwören können, dass die Töne des Flötenspiels das Wasser aus ihr hervorlockten und sie dann vor meinen Augen brannten. Immer härter, rosafarbener und kleiner wurde die Figur, bis es unmöglich erschien, dass in ihr noch irgendwelche Feuchtigkeit übrig war. Tanamil spielte noch immer und betrachtete dabei die Figur, bis das Rosa ganz weißlich geworden war. Dann kam er so sanft zum Schluss, dass ich zuerst gar nicht begriff, dass er aufgehört hatte. Es war nicht still. Auf beiden Seiten von uns rauschten die beiden Ströme, der Wind raschelte im Schilf, und die Vögel auf den Klippen machten ihre Laute. Alle diese Geräusche schien die Musik gefangen und festgehalten zu haben.
»OH!«, machte Robin; sie schrie beinah. »Gull…!« Als ich ins Boot blickte, war Gull durchsichtig geworden. Ich konnte die Planken und einen Zipfel der Decke unter ihm sehen. Ich sah, wie durch das Liegen das Haar an seinem Hinterkopf platt gedrückt wurde. Während ich noch hinblickte, war er zusehends schwächer zu erkennen. Er erinnerte mich an eine Lache Flüssigkeit mit seinem Spiegelbild darin, und die Lache schien rasch einzutrocknen. Sie schrumpfte, wobei sie Gull immer ganz umschloss. Sie schwand, bis sie nur noch eine Stelle vor der Ruderpinne bedeckte.
Hern sprang auf. Er hob den Fuß, um gegen die getrocknete Figur zu treten.
»Nicht anfassen!«, rief Tanamil so knapp, dass es wie ein Bellen klang.
Hern stellte den Fuß wieder auf den Boden. Im gleichen Moment trocknete der flüssige Gull endgültig aus. Vor uns stand nur noch ein leeres Boot.
Zu entsetzt, um etwas zu sagen, starrten wir es mit bleichen Gesichtern an. Tanamil steckte die Flöte weg, erhob sich und hob sanft die Figur Gulls vom Boden auf. »So«, sagte er, während er sie in seinen Händen barg, »jetzt ist er in Sicherheit.«
»Wie kann er in Sicherheit sein?«, fragte Robin.
»Wo ist er denn?«, fragte Entchen.
»Was hast du getan?«, fragte ich. Was Hern anging, so war er sprachlos.
Tanamil reichte Robin den getrockneten rosa Gull, und sie nahm ihn mit höchster Bestürzung entgegen. »Was… was soll ich denn damit?«, fragte sie.
»Bewahrt ihn wohl, bis ihr bei eurem Großvater seid«, antwortete Tanamil.
»Wir haben aber keinen Großvater«, sagte Entchen.
Tanamil blickte uns nacheinander an, als wüsste er nicht, was er entgegnen sollte. »Ich hatte nicht geahnt, wie wenig ihr wisst«, sagte er schließlich. Er dachte kurz nach und erklärte: »Gulls Seele ist keine gewöhnliche Seele. Wenn ein Feind sie in seinen Besitz brächte, könnte er sie als Kanal benutzen, um gleichsam die Seelen seiner Seele abzuleiten und dadurch die Seelen seiner Vorfahren an sich zu reißen bis hin zur Seele seines allerersten Urahnen. Ich kann nicht sagen, ob der Mann, der versucht hat, Gull die Seele zu nehmen, das bereits weiß; es steht aber fest, dass er keine Gelegenheit erhalten darf, davon zu erfahren. Was ich getan habe, schützt Gulls Seele, ohne dass dieser Mensch irgendetwas davon erfährt. Wenn ich bei euren Unvergänglichen schwöre, dass Gull in Sicherheit ist, würdet ihr mir dann glauben?«
»Wie es aussieht, ist er auch sicher vor uns«, entgegnete Robin, und Tanamil lachte.
»Kommt mit unter mein Dach und wärmt euch auf«, sagte
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