Jones, Diana Wynne
hereinbrechenden Dämmerung sah Moril deutlich, wie vom Pferderücken der Dampf aufstieg. Unter dem scharlachroten Geschirr bebten Olobs Flanken, an denen dicke Schaumflecken klebten. Die Straße stieg an und verschwand unter einer steilen Felswand zwischen den Bäumen, und obwohl die Erhebung wirklich nicht steil war, wurde Olob langsamer.
»Wir müssen ihn jetzt langsam gehen lassen«, sagte Moril. Er empfand großes Mitleid für das Pferd. »Er kann nicht mehr.«
Olob durfte nun in einen müden Trott verfallen, und alles erschien plötzlich zehnmal so friedlich als zuvor. In den großen Buchen, unter denen sie fuhren, hörten sie jetzt Vögel krächzen und rufen.
»Meine Güte!«, rief Brid und setzte sich auf. »Wo sind wir? Und warum tut mir alles weh?«
Moril hatte gewusst, dass seine Schwester irgendwann aufwachen würde, aber er hatte gehofft, sie wären dann schon tiefer im Wald, und Olob hätte sich schon wieder erholt. Kialan und er berichteten Brid, was geschehen war. Sie zeigte sich recht empört darüber.
»Mich als … als Schlafmaß zu benutzen! So was hab ich gern!«
»Die Idee war sehr gut«, rechtfertigte sich Kialan, »nur nicht sehr anständig.«
Doch Brid hatte schon begriffen, dass Tholian ihnen vermutlich mittlerweile auf den Fersen war, und gab sich plötzlich so nervös wie eine Katze. Sie drehte den Kopf nach hinten und beschwor Moril, so schnell wie möglich unter die Bäume zu verschwinden. Auch Moril schaute über die Schulter. Zwischen den Baumstämmen hindurch sah er das dunkler werdende Grün des Hochlands und die langgestreckte Straße. Sie war leer.
»Sobald wir auf der Bergkuppe sind. Olob ist müde.«
Unter den Bäumen zog sich die Dunkelheit rasch zusammen, doch es gab noch immer genug Licht, um zu sehen. Brid kreischte leise auf. Zwischen den Bäumen tauchten Reiter auf. Sie kamen auf der Seite der Felswand langsam die Anhöhe heruntergeritten. Olob zeigte nicht das geringste Zeichen von Unruhe. Weil Moril ihm vertraute, blieb er auf der Straße, obwohl Brid beschwörend auf ihn einflüsterte. Und obwohl er Olob vertraute, beunruhigte es ihn sehr, als die Reiter, kaum dass sie den Wagen erblickten, sich ihm zuwandten und die Pferde anspornten. Mit donnernden Hufen preschten sie heran.
Sie waren zu dritt. Neben dem Wagen zügelten sie die Pferde, und Olob blieb stehen. Kialan sprang auf und starrte den vordersten Reiter an. Der Reiter stierte zurück.
»Du verflixter Idiot! Was musstest du in den Süden kommen?«, fragte Kialan und brach in Tränen aus.
Obwohl Brid und Moril nicht im Traum daran gedacht hätten, ihren eigenen Vater je einen verflixten Idioten zu nennen, zweifelten sie keinen Augenblick, dass der Reiter Graf Keril war. Kialan sprang unbeholfen vom Wagen, der Reiter stieg vom Pferd. Als er Kialan umarmte, waren sie sich sicher.
»Konian … Sie haben ihn gehenkt!«, rief Kialan.
»Das weiß ich. Wir haben es von einem Fischer erfahren«, sagte Keril. »Wegen dir bin ich gekommen. Ich hatte gehofft, Clennen wüsste … – wo ist eigentlich Clennen?«
»Er ist tot«, sagte Brid und begann ebenfalls zu weinen.
Moril blieb auf dem Kutschbock sitzen und spürte, wie ihm die Tränen das Gesicht herunterliefen. Er wusste, er beweinte das ganze Elend seiner Lage, denn er war nun auf sich allein gestellt, und das würde sich nie mehr ändern.
»Sie haben ein Heer«, sagte Kialan. »Tholian hat ein Heer ausgehoben, um den Norden anzugreifen. Es steht in einem Tal ganz in der Nähe. Wahrscheinlich sind sie jetzt hinter uns her.«
Keril tauschte mit den beiden anderen Reitern einen Blick. »Wir haben eine kleine Streitmacht im Wald. Wie groß ist dieses Heer?«
»Recht groß«, antwortete Moril schniefend. »In dem Teil des Tals, den wir einsehen konnten, waren fünfhundert Fußsoldaten, unterteilt in drei Kompanien, und einhundert Reiter. Aber wahrscheinlich war das nur ein Viertel ihrer Gesamtstärke.«
»Woher weißt du das?«, fragte Kialan. »Hast du sie gezählt?«
»Nein, ich weiß es einfach«, antwortete Moril. »Und während wir dort waren, kamen vier Trupps Rekruten hinzu, dreiundzwanzig in der ersten, zweiunddreißig in der – «
»Das sind viel zu viele für uns«, unterbrach ihn Keril. »Danke, Junge. Wir wollen uns in unser Lager zurückziehen und wappnen.«
Das Lager der Nordmänner war entlang der Felswand aufgeschlagen und danach ausgewählt, dass es sich gut verteidigen ließ. Als der müde Olob den Wagen hineinzog, waren bereits
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