Jones, Diana Wynne
»Auch du und ich müssen unseren Hals retten.«
Mitt rätselte darüber nach, während er sich ununterbrochen gähnend zwischen den blaubraunen Schemen anderer aufsteigender Leute auf den Rücken von Luthans Stute setzte. Ihm erschien es als gewaltige Unverschämtheit, dass Navis und er ihren Hals mit Hilfe der Gefolgsleute des Grafen von Wassersturz retteten. Noreth war natürlich die ideale Entschuldigung. Dennoch glaubte er, dass sich allein damit die Dringlichkeit, die Navis empfand, nicht erklären ließ. Navis hatte noch etwas anderes im Sinn, doch Mitt war viel zu schläfrig, um darauf zu kommen, was es war, sosehr er sich auch den Kopf zerbrach.
Die Dämmerung brach herein, als das kleine Heer wieder aufbrach. Wie eine weiße Flut ergoss sie sich vom Himmel, und aus dem Boden stieg ihr eine Bläue entgegen, die plötzlich von einem blendend orangeroten Streifen aufgerissen wurde. Es dauerte nur Sekunden, und das Gras war wieder grün, und die Reiter wandelten sich von braunen Schemen in feste, bunte Gestalten.
Und noch mehr feste Gestalten ritten ihnen auf der Grünen Straße entgegen. Die orange Morgendämmerung blitzte auf Goldschnüren und glitzerte irrlichternd auf Stahl und Leder. Die Gruppe war kleiner, ritt jedoch geordnet, und jeder war gut bewaffnet.
»Sieht aus, als hätte Graf Keril das Rennen gewonnen«, sagte Maewen.
»Nein«, erwiderte Mitt und kniff die Augen zusammen, um schärfer zu sehen. »Das sind nicht die Hannarter Farben, sondern … – Lodernder Ammet! Das ist Alk. Was macht Alk denn hier?«
19.
Alk ritt auf einem gewaltigen Pferd. Mitt kannte es gut. In ganz Aberath war es beinah das einzige Tier, das Alks Gewicht tragen konnte. Durch das Pferd und seine Leibesfülle war Alk unverwechselbar. Er gebot seinem Trupp mit einem Wink Halt und ritt allein vorweg. Obwohl Mitt wusste, dass Alk unter seiner Kleidung aus hellem Leder eine selbst erfundene, besondere Rüstung trug, fand er Alks Verhalten sehr mutig – oder sehr töricht, denn Luthans Leute waren mit Büchsen und Armbrüsten bewaffnet. Müde mochten sie sein, doch nachdem Navis sie geschunden hatte, waren sie reizbar wie eine nasse Katze.
»Niemand schießt!«, brüllte Navis scharf. Fünfzig Waffen waren angelegt.
Luthan fuhr aus dem Schlaf. »Richtig, Navis. Nicht schießen! Wir haben keinen Streit mit Aberath.«
Das gilt vielleicht für dich!, dachte Mitt nervös, während Alk auf halbem Wege zwischen den beiden Trupps schwerfällig sein Pferd anhielt.
»Guten Morgen«, rief Alk. »Ich muss mit einigen von euch sprechen. Hier ist meine Liste: Navis Haddsohn, Alhammitt Alhammittsohn, Hestefan der Barde, Tanamoril Clennensohn und eine Dame namens Noreth Einentochter, wenn sie bei euch ist. Ich wäre dankbar, wenn ihr einfach hervorkommen würdet und die übrigen von euch sich ein wenig zurückziehen könnten. Ich muss mit den genannten Personen unbelauscht sprechen.«
Sie tauschten verblüffte Blicke. Mitt und Moril hatten ständig gegähnt, Maewen waren andauernd die Augen zugefallen. Plötzlich aber waren sie alle hellwach. »Ich denke, wir sollten uns anhören, was er will«, sagte Navis. »Schließlich sind wir vier gegen einen.«
»Bei Alk zählt das wenig«, entgegnete Mitt. »Ich habe selbst gesehen, wie er ein Pferd niedergerungen hat.«
Navis verbeugte sich höflich vor Luthan. »Wir achten darauf, dass wir euch nicht allzu lange warten lassen«, sagte er. Luthan sah ihn höflich und verdutzt zugleich an. Navis lenkte sein Pferd aus der Menschenmasse, und die drei anderen folgten ihm.
Alk blickte ihnen entgegen. Mitt hatte ihn noch nie so bedrückt und grimmig gesehen. »Wo ist Hestefan der Barde?«
»Folgt weiter hinten«, sagte Navis. »Sein Maultier konnte nicht Schritt halten. Wirst du uns lange aufhalten, Herr?«
»Herr.« Alk rieb sich das Kinn. Es schabte. Hinter ihm sah Mitt zahlreiche Gesichter, die er aus Aberath gut kannte. Alle sahen müde und angewidert aus, und kein einziger von ihnen grüßte die Neuankömmlinge. »Herr?«, wiederholte Alk. »Nun, ich würde sagen, du bist mindestens ebenso sehr ein Herr wie ich, Navis Haddsohn. Ich habe den Eindruck, dass du keineswegs deinen Respekt bekundest, wenn du Menschen so ansprichst. Also lass es bei mir bleiben. Was deine Frage angeht, wie viel von eurer Zeit ich euch stehlen werde, nun, es wird so lange dauern, wie es dauern muss. Ihr seid mir einmal entkommen, nachdem ich euch bei Sturzbachau fast eingeholt hätte, doch ihr brachtet
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