Jones, Diana Wynne
Steinen zu leben, mit denen sie arbeitet. Und mein Vater ist sehr beschäftigt. Er ist der Kuratoriumsvorsitzende des Tannoreth-Palasts.«
»Aha«, sagte der alte Mann. Nein, seine halb geschlossenen Augen gefielen ihr gar nicht. Sie blickte weg. »Dann bist du tatsächlich auf dem Weg ins Königsschloss?«, fragte er. Er schien sehr zufrieden zu sein. »Und du warst ganz allein unterwegs, bis wir uns begegneten, hm? Dann biete ich dir meine Begleitung an.« Er beugte sich vor. Das Abteil schien ganz von seinem pfeifenden Atem erfüllt zu sein, als dringe die Luft von außen in den Mann hinein, anstatt den Weg durch die Nase zu nehmen, wie es sich gehörte.
Einen schrecklichen Moment lang dachte Maewen, er wolle ihr das Knie tätscheln. Sie schob sich so weit in den Sitz zurück wie möglich, und trotzdem fühlte sie sich ihm noch immer viel zu nahe.
»Nun hast du ja mich«, sagte er und beugte sich vor. »Betrachte mich als deinen Freund.«
Nein! Hilfe!, dachte Maewen. Sie sah die anderen Fahrgäste an. Drei von ihnen schliefen, und der andere hatte sich in sein Buch vertieft. Sie überlegte, ob sie die Füße heben und die Knie seitlich auf den Sitz legen sollte, um der Reichweite des alten Mannes zu entkommen, der eine feiste Hand gehoben hatte, um sie zu tätscheln. Und der Schaffner war gerade erst vorbeigegangen, also würde es Stunden dauern, bis er wiederkam.
»Sieh mir in die Augen«, sagte der alte Mann, »und sage mir, dass du mich als Freund betrachtest.«
Sein Gesicht schien direkt vor ihr zu schweben; außer ihm sah sie nichts mehr. Maewen schloss die Augen. Wenn doch nur der Schaffner käme!, flehte sie. Wenn mir doch nur jemand helfen würde!
Und wie durch ein Wunder schob sich die Abteiltür zur Seite, und der ernste, gut aussehende Schaffner streckte den Kopf herein. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
»Ich … oh … ja … nein … er …« Hör mit dem Stammeln auf und sag, dass er versucht hat, dein Knie zu tätscheln, du blöde Kuh! »Er …« Maewen drehte sich um und wies auf den Sitz gegenüber und begann wieder zu stammeln; diesmal verschlug es ihr vor Staunen und Verlegenheit die Sprache. Der Sitz war leer. Mit einem raschen Blick durch das Abteil vergewisserte sie sich, dass nur vier Fahrgäste auf den Bänken saßen: drei schliefen, einer las. »Aber er … da war … ich dachte, ein alter Mann … ich meine …«
Der Schaffner drehte den Kopf und blickte den leeren Sitz ernst an. »Ich glaube nicht, dass er dich noch einmal belästigen wird«, sagte er höflich und mit völlig unbewegtem Gesicht. Dann schloss er die Tür wieder und ging davon.
Maewen setzte sich zurück. Ihr war heiß, und sie hätte sich am liebsten verkrochen. Es war schlimmer als je zuvor. Wenn mir mit diesem Schaffner noch irgendwas passiert, dann sterbe ich! Sie musste eingeschlafen sein und von dem alten Mann geträumt haben. Was hatte ihr nur einen so schaurigen Traum geschickt? Vielleicht fürchtete sie sich tief in ihrem Innern vor dem Wiedersehen mit ihrem Vater. Entschlossen, nun wach zu bleiben, blickte sie aus dem Fenster auf das Gebirge, auf die schwärzlichbraunen Bergschultern, die grünen Hänge, die schwarzen Felsenspitzen und die blauen Zacken in der Ferne, die an ihr vorbeizogen, während die Eisenbahn durch das Herz von NordDalemark stapfte. Um ihre Nerven zu beruhigen, dachte sie ganz fest an ihren Vater. In seinen Briefen hatte er Maewen immer wieder um einen Besuch gebeten. Er musste sie wirklich gern wiedersehen wollen. Mutter hatte jedoch nur erbittert betont, sie lasse Maewen erst dann zu ihm fahren, wenn sie alt genug wäre, um selbst auf sich aufzupassen. »Weil er nach einem halben Tag wahrscheinlich wieder vergessen hat, dass es dich gibt«, sagte sie. »Du könntest Hungers sterben – wenn es nicht noch schlimmer kommt.« Und sie begann eine Tirade darüber, dass Vater nur für seine Arbeit lebe.
Maewen grinste. Ausgerechnet das von Mutter – das war wirklich ein starkes Stück. Dennoch, die Ehe schien daran zerbrochen zu sein. Vater neigte damals dazu, immer wieder zu vergessen, dass er Frau und Tochter hatte. Maewen meinte jedoch, es ertragen zu können, wenn Vater sich als eine männliche Ausgabe von Mutter erweisen sollte. Schließlich war sie an so etwas gewöhnt. Immerhin konnte sie dafür aber mitten in der Hauptstadt im Königsschloss Amils des Großen wohnen – das war ihr das Risiko wert. Nur was, wenn Vater sich als unerfreulicher Mensch erwies? Maewen hatte es
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