Jones, Diana Wynne
Bürogebäuden. Das Zimmer war riesig und leer bis auf ein Bett, einen Schrank und einen großen fadenscheinigen Teppich, der schon alt gewesen sein musste, als Amils Sohn ihn nach Dalemark importierte. Nebenan war ein großes, widerhallendes Badezimmer mit so alten Wasserrohren, dass Maewen darüber mehr staunte als über irgendetwas anderes im ganzen Palast.
»Ich fürchte, ich kann nur abends und am frühen Morgen Zeit für dich erübrigen«, sagte Vater beim Abendessen. Das Essen servierte eine junge Dame. Sie gehörte zu einer ganzen, erstaunlichen Riege junger Damen, die Vater jeden Wunsch von den Augen abzulesen schienen und zwischendurch für ihn als Sekretärinnen arbeiteten. Als Maewen sie sah, erkannte sie augenblicklich, dass Vater die Scheidung nicht mehr bedauerte als Mutter. Er fühlte sich rundherum wohl. Nach dem Essen zündete er sich eine Pfeife an und erklärte: »Für uns beginnt gerade der Höhepunkt der Touristensaison. Solange der Palast für die Öffentlichkeit zugänglich ist, muss ich überall zugleich sein. Ich habe jedoch allen gesagt, dass du dir ansehen darfst, was du möchtest. Morgen werde ich dich allen vorstellen, sodass niemand dir Schwierigkeiten macht.«
Den ganzen Abend redeten sie miteinander. Vaters Pfeifenrauch stieg in dem Abendlicht auf, das durch die bleigefassten Fenster in den Raum fiel. Maewen fand, dass sie gut miteinander auskamen. Vaters Gedanken schienen sich auf ähnlichen Bahnen zu bewegen wie die ihren. Am nächsten Morgen weckte er sie überraschend früh, und sie nahmen zusammen das Frühstück ein – angerichtet hatte es eine andere junge Dame –, während durch das gegenüberliegende Fenster rosiges Morgenlicht auf knusprige Brötchen und aromatischen schwarzen Kaffee fiel. Und gerade dachte Maewen noch, wie erwachsen und angenehm ihr all das vorkam, als Vater aufsprang und begann, sie durch das Schloss zu führen.
Der Tannoreth-Palast war riesig. Unterschiedlich alte Gebäude breiteten sich strahlenförmig zwischen Höfen mit Brunnen aus oder zwischen Gärten mit Statuen und Lauben, Hecken und Rosen; sogar einen kleinen Zoo gab es. Über jeden großen Raum, den sie betraten – sogar über einige Treppenhäuser –, über jedes Gemälde oder andere Kunstwerk oder irgendwie bemerkenswerten Gegenstand hielt Vater ihr einen seiner kurzen Vorträge. Zwischendurch stellte er sie weit mehr Leuten vor, als sie sich merken konnte, und alle waren sie im Palast beschäftigt: Frauen in Kittelschürzen, die die lang gestreckten Galerien des Museums polierten oder die vergoldeten Tische abstaubten, Wächtern, Führern, Sekretärinnen und Major Alksen, dem Chef der Palastwache. Maewens Gehirn begann allmählich zu streiken. Während Vater sie nach draußen führte, um sie mit den Gärtnern bekannt zu machen, dachte sie: Das kann ich unmöglich alles im Kopf behalten! Wir sind doch nicht so geistesverwandt, wie ich geglaubt habe. Es war auch noch zu früh am Morgen. Obwohl sie es gewöhnt war, in den Ferien beim ersten Hahnenschrei aufzustehen und Tante Liss in den Ställen zu helfen, konnte sie ein Pferd im Halbschlaf versorgen, unter Autopilot sozusagen. Hier aber war alles anders. Den Pferden wurde man nicht vorgestellt, und niemand erwartete, dass man sich mit der Geschichte der Scheune auskannte.
Hinterher stellte sie fest, dass sie sich aus der ganzen Führung einzig und allein an Major Alksen erinnern konnte, weil er so genau ihrem Bild von einem pensionierten Soldaten entsprach. Und an Wend natürlich. Sie war froh, dass Vater ihr Wend nicht noch einmal vorgestellt hatte. Maewen empfand eine zu große Verlegenheit, um in seine Nähe zu gehen.
Dennoch kam es ihr vor, als blamiere sie Vater oder lasse sich Gelegenheiten entgehen oder so etwas. Nachdem Vater sie also wieder flüchtig und unbeholfen zum Abschied geküsst hatte, fühlte sich Maewen verpflichtet, sich den Palast noch einmal auf eigene Faust anzusehen.
Dazu benötigte sie Tage. Manchmal schloss sie sich Führungen an, vergewisserte sich aber jedes Mal, dass nicht etwa Wend der Führer war. Wenn ein Führer Maewen zwischen den Massen ausländischer Schulkinder, gewöhnlichen Familien und Männern und Frauen aus Nepstan in Seidenkleidung entdeckte, schenkte er ihr immer ein besonderes Lächeln, dann machte er mit seiner Arbeit weiter. Maewen besichtigte mit solch einer Menschenmenge Amils Grabmal, doch es bestand nur aus einem kalten, langweiligen Gewölbe mit einem von Goldlettern übersäten
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