Jones, Diana Wynne
Schulter. Er breitete gekritzelte Notizen und sorgfältig gezeichnete Diagramme vor ihr aus, damit Maewen sie besser sehen konnte. »Hier«, sagte er. »Meine Familie. Soweit ich sagen kann, gehen wir auf einen umherziehenden Barden zurück. Ich glaube, dass sein Name Clennen gewesen sein könnte, aber die Barden zogen durchs ganze Land, und es wurde so wenig über sie geschrieben, dass es eine teuflische Arbeit ist, überhaupt etwas Stichhaltiges herauszufinden. Verglichen mit dieser Zeit waren die letzten hundert Jahre Kinderkram, und die fand ich eigentlich schon schwer genug. Sobald wir zur Familie deiner Mutter übergehen, wird alles noch viel schlimmer. Hier.« Vater schob Maewen Papiere hin, die hastig von oben bis unten mit blasser Bleistiftschrift bekrakelt waren. »Siehst du? Es gibt eine Verbindung zu Edril, dem Bruder Amils II., aber das ist auch schon…«
»Du meinst, Mutter stammt von Amil dem Großen ab!«, rief Maewen aus.
»Das tun viele Leute. Wenn du meinst, damit wäre die distanzierte Zerstreutheit deiner Mutter erklärt«, entgegnete Vater trocken, »so kann ich dir nicht zustimmen. Wenn du dich erinnerst, dass jeder Mensch vier Großeltern und acht Urgroßeltern hat, siehst du leicht, dass letztendlich alle irgendwo verwandt sind, wenn man nur weit genug zurückgeht. Mit jeder weiteren Generation verdoppelt sich die Anzahl der Ahnen, die eine bestimmte Person hat, und damit halbiert oder sogar viertelt sich die Anzahl der Menschen, von denen diese Ahnen hätten abstammen können. Bis ungefähr vor hundert Jahren war Dalemark nur sehr dünn besiedelt.«
Er dozierte schon wieder, und Maewen versuchte zuzuhören. Sie interessierte sich wirklich für die Schwierigkeiten, auf die Vater traf, während er versuchte, die beiden Generationen um die Zeit Amils des Großen herum zuzuordnen. Im Geschichtsunterricht lernte man kaum die Hälfte der Wirren und Aufstände, die damals stattgefunden hatten. Doch Vater hatte so viel zu erzählen. Die Sonne war schon seit Stunden versunken, und Maewen gähnte immer wieder herzhaft, als Vater endlich sagte: »So, das soll für heute reichen. Ich habe morgen einen langen Tag.«
Kaum lag Maewen im Bett, als sie sich klar zu machen versuchte, was sie eigentlich von Vater und der Scheidung hielt. Sie liebte ihren Vater sehr – so sehr, dass es beinah schmerzte –, nur nicht ganz so sehr, wenn er ins Dozieren verfiel. Sie konnte sich nicht darüber empören, wie froh er war, von Mutter geschieden zu sein, sosehr sie dieses Gefühl auch herbeiwünschte. Sie hatte erwartet, deshalb traurig zu sein – sie fand sogar, sie müsste doch eigentlich traurig sein –, doch sie brauchte nur in das große, geschäftige Büro ein Stockwerk unter der Wohnung zu kommen und zu sehen, wie Vater sich mit seinen Sekretärinnen beriet, Wend Anweisungen zurief oder sich mit Major Alksen besprach – und er tat manchmal alles auf einmal –, und schon war sie froh, dass sie nicht gleichzeitig bei ihm und bei Mutter leben musste. Beide waren sehr eigensinnige Menschen, die völlig in ihrer Arbeit aufgingen. Und einer davon auf einmal genügte Maewen.
Am nächsten Morgen entdeckte sie, während sie Brotstückchen für die dicken, watschelnden Tauben aufs Bleidach warf, etwas Bemerkenswertes: Sie fühlte sich nicht mehr gezwungen, jede Einzelheit über den Palast im Kopf zu behalten, nachdem sie sich einmal Klarheit darüber verschafft hatte, wie sie zu ihrem Vater stand. Da es schon wieder ein brütend warmer Tag wurde, beschloss Maewen, schwimmen zu gehen. Major Alksen hatte ihr erlaubt, das Personalschwimmbecken des Palastes zu benutzen, aber er hatte nicht gesagt, wo es war. Sie musste ihn suchen und ihn fragen.
Sie ging nach unten ins Büro. Dort herrschte solche Betriebsamkeit, dass sie zwar die Stimme ihres Vaters hörte, ihn zwischen den vielen hin und her eilenden Leuten aber nicht sehen konnte. Von der Sekretärin, die der Tür am nächsten saß, erfuhr Maewen, dass Major Alksen schon auf seinem Posten war. Maewen stieg ein weiteres Stockwerk tiefer und ging auf die großen oberen Galerien des Palastes, auf denen es noch leer, kühl und still war, wie immer, bevor der Palast öffnete. Diese lang gestreckten Räume bildeten eine Art Museum, wo Kleider und Kuriositäten früherer Könige und Königinnen zwischen Statuen und Plastiken ausgestellt wurden, die einmal draußen vor dem Palast gestanden hatten. Da viele dieser Ausstellungsstücke sehr wertvoll waren, kam Major
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