Jones, Diana Wynne
schon beim Anblick Wends fast vor Verlegenheit. Wend verbeugte sich knapp, aber höflich, als er sie sah, und schenkte ihr ein verhaltenes Lächeln. Maewen spürte, wie ihr Gesicht puterrot anlief. Das lag nur an der scheußlichen Art Wends, niemals eine andere Regung als Höflichkeit zu zeigen. Sie biss jedoch die Zähne zusammen und folgte den anderen Touristen.
Wie sie entdeckte, war das Bildnis des Bardenjungen aus mehreren Gründen berühmt. Niemand hatte je herausgefunden, wer der Junge gewesen war, obwohl er bedeutend gewesen sein musste, denn der beste Maler seiner Zeit hatte ihn porträtiert. Er musste auch Amil dem Großen wichtig gewesen sein, denn Amil vererbte das Gemälde ausdrücklich seinem Enkel, Amil II. Über dieses Bild waren schon dicke Bücher geschrieben worden. Einige Theoretiker vermuteten, der Junge sei Amil selbst, bevor er den Thron errang. Amil der Große hatte auch die Quidder sorgfältigst aufbewahrt, die mit dem Jungen gemalt worden war. Sie war ganz offensichtlich schon damals sehr alt gewesen. Der Bardenjunge hatte die Hand verträumt um das Instrument geschlossen und verbarg dadurch die Hälfte der eigenartigen alten Schriftzeichen, die in die Vorderseite eingelegt waren. Und genau diese Quidder lag in einem Glaskasten neben dem Porträt. Trotz sorgfältigster Restauration sah sie sehr zerbrechlich und rissig aus.
»Man stelle sich das vor!«, sagten die Besucher, hoben die Fotoapparate und drängelten sich um den besten Aufnahmewinkel.
Danach führte Wend die Gruppe in den Ballsaal und erklärte, die Gemälde an der Decke und den Wänden stammten aus der Zeit Amils II. Niemand wisse, wie Amil der Große wirklich ausgesehen habe, und die purpurnen Hosen seien frei erfunden. Davon war Maewen so belustigt, dass sie sich aus Wends peinlicher Nähe entfernte und hinunter in die Eingangshalle ging. Dort kaufte sie eine Postkarte mit Amil in seiner engen Hose und schrieb Mutter und Tante Liss, sie wünschte, sie wären auch hier. Dann machte sie einen Ausflug in die Stadt, um die Karte einzuwerfen.
Die Stadt war sogar noch belebter als der Palast, und der Verkehr war schrecklich. Beim Vorübergehen brauchte sie nur einige wenige Blicke in die Schaufenster zu werfen und wusste, dass sie nicht genug Geld besaß, um Mutter und Tante Liss auch nur ein ganz gewöhnliches Souvenir mitzubringen. In Karnsburg wurden Dinge aus aller Welt verkauft, und die Stadt war teuer. Am ungewöhnlichsten musste jemandem, der wie Maewen auf dem Land großgeworden war, jedoch der Umstand erscheinen, dass in der Stadt so gut wie gar keine Bäume zu sehen waren, wenn man sich erst einmal auf den Straßen bewegte.
»Wo sind die ganzen Bäume hin?«, fragte sie am Abend ihren Vater.
Das war ein gutes Beispiel dafür, wie gut sie und ihr Vater sich verstanden. Er wusste sofort, wovon sie sprach, obwohl er gerade damit beschäftigt war, am anderen Ende des Tisches steife Papierblätter und Notizbücher zu ordnen. »In die Gärten der Leute, denke ich«, sagte er. »Ich glaube, Amil der Große hat es so geplant, denn an dieser Stelle wuchsen keine Bäume, als er begann, Karnsburg wiederaufzubauen.«
»Dann hat er aber einen Fehler gemacht«, entgegnete Maewen. »Hier gibt es nur Häuser und Autos, da bleibt mir die Luft weg.«
»Du hättest schwerer geatmet, als hier noch alles neu war«, sagte Vater. »Vor zweihundert Jahren wäre man am Rauch der vielen Kohlefeuer fast erstickt. Ich weiß trotzdem nicht, ob es wirklich so gut war, das Öl unter den Marschen zu entdecken. Die Königin wird davon zwar sehr reich, aber es hat auch seine Nachteile.«
»Wo ist die Königin eigentlich?«, fragte Maewen. »Ich bin schon fast im ganzen Palast gewesen, aber…«
»Oh, sie kommt nur noch selten hierher«, sagte Vater. »Sie ist ziemlich alt, weißt du, und darum zieht sie den Süden vor, wo es schön warm ist. In den Palast kommt sie nur noch zu Staatsakten.«
»Und der Kronprinz?«, fragte Maewen. Sie fühlte sich ziemlich verraten.
»Er lebt in Hannart«, antwortete Vater geistesabwesend. Er hatte sich in ein Notizbuch vertieft. »Er hält weder etwas von seiner Mutter noch von öffentlichen Auftritten.«
»Was tust du da?«, fragte ihn Maewen.
»Ich versuche, unseren Familienstammbaum niederzuschreiben«, sagte ihr Vater. »Das ist mein Hobby – und es kann einen zur Verzweiflung treiben. Du kannst herkommen und es dir ansehen, wenn du möchtest.«
Maewen trat näher und lehnte sich an seine eckige, warme
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