Jones, Diana Wynne
Grabstein. Maewen besuchte es nur ein einziges Mal. Sie zog es vor, im Palast zu bleiben.
Hier begann sie ihre Besichtigungen gewöhnlich im Alten Palast, wo die meisten Gemälde hingen. In diesem Trakt wimmelte es immer von Kunststudenten. Sie lagen auf dem Boden des Raumes, der einmal die Große Halle gewesen war, aber nun als Ballsaal benutzt wurde, und kopierten die Perspektive der Deckengemälde. Auf den Wänden des Saals war Amil der Große mit einer hellen Haarmähne dargestellt, wie er, in einer Hand eine lange Rolle von Bauplänen hinter sich herschleifend, den Bau des Palastes beaufsichtigte. Amil trug eine enge purpurne Hose, die Maewen für ausgesprochen unvorteilhaft hielt. Auf den Kopien, die von den Studenten angefertigt wurden, sah das Beinkleid noch schlimmer aus. Auf der Decke war ganz Dalemark abgebildet, von den Ebenen und langsamen Flüssen des Südens zu den Gebirgen des Nordens, umgeben von Schlachtszenen, in denen Amil (mit der gleichen purpurnen Hose) seine Heere zu Beginn seiner Herrschaft gegen die aufständischen Grafen führte.
Eine Tür weiter war ein kleinerer Raum, in dem gerahmte Ölgemälde an den Wänden hingen. Hier fanden sich Maewens Lieblingsbilder. Sie gewöhnte sich rasch daran, dass sie über die Studenten, die am Boden lagen, hinwegsteigen und sich zwischen den Staffeleien und den eifrig beschäftigten jungen Leuten hindurchschieben musste, wenn sie die Porträts betrachten wollte, die sie kopierten. Das größte Gemälde stellte den Herzog von Karnsburg dar, der in hochmütiger Pose vor einer neu auf einem Berg erbauten Burg stand und sich über die Schulter blickte, die ein flatterndes rotes Cape bedeckte.
»Der oberste Minister Amils des Großen«, erklärte ihr Vater, als sie ihn am Abend danach fragte, »und einer der rücksichtslosesten Männer der Geschichte.«
Maewen sah dem Herzog an, dass er rücksichtslos war – man erkannte es an jeder grimmigen, klaren Linie seines Gesichts –, und doch war an ihm auch etwas Vertrautes, geradezu Freundliches. Maewen kam es fast vor, als kenne sie ihn. Immer wieder versuchte sie zu ergründen, woher das kam. Er sieht aus, als wäre er zu seinen Freunden immer sehr nett gewesen, entschied sie sich. Aber wenn man nicht sein Freund war, dann musste man sich vorsehen. Er verurteilte einen zum Tod, ohne mit der Wimper zu zucken.
Links und rechts vom Herzog hingen zwei trübsinnige Porträts des Adons, die beide viel, viel älter waren, und dahinter wiederum hing ein noch älteres Bildnis Enbliths der Schönen, die die allerschönste Frau aller Zeiten gewesen sein sollte, Tochter der Unsterblichen und eine berühmte Königin. Das Porträt war rissig, und trotzdem fiel Maewen dazu nur ein, dass das Schönheitsideal sich im Laufe der Jahre wohl gewandelt haben musste. Enblith erinnerte sie sehr an Tante Liss – und Tante Liss hatte man noch nie eine Schönheit genannt, nicht einmal, als sie jung war. Ich wette, sie hat die Leute dazu bewegt, sie für schön zu halten, dachte Maewen. Mehr sollten Frauen damals ja auch nicht sein.
Dann schob sie sich zwischen den Staffeleien zu dem Porträt vor, das sie am meisten faszinierte.
Es hieß Unbekannter Bardenjunge, und Maewen wünschte sich immerfort, sie wüsste mehr über ihn. Er war etwa in ihrem Alter und hatte rotes Haar, wie es sich Maewen insgeheim von jeher wünschte –, und er wies jene Blässe auf, die mit rotem Haar immer einhergeht. Er war recht kostbar in dunkelkastanienbraune Atlasseide gekleidet; darum musste er entweder ein sehr guter Barde oder ein Adelssprössling sein, der als Sänger posierte. Ein guter Barde sei er gewesen, beschloss Maewen. Sie entnahm es seinem gequälten Blick, mit dem er ihr in die Augen schaute und doch gedankenvoll, wissend und sehr traurig an ihr vorbeisah auf etwas, das weit, weit hinter ihr lag. Jemand hat ihm ganz übel mitgespielt, dachte sie, als sie zum ersten Mal in diese Augen blickte. Sie wünschte, sie wüsste, wer ihm das angetan hatte, und warum. Immer wieder kehrte sie zu diesem Bild zurück, um dem Jungen in die Augen zu schauen.
Sie war so neugierig auf den Bardenjungen, dass sie sich nach einigem Zögern doch der Nachmittagsführung durch die Gemäldesammlung anschloss. Diese Führung hatte den Vorteil, dass die Studenten dann schon zu Hause waren, und den Nachteil, dass Wend sie leitete. Maewen brauchte mehrere Tage, bis sie genügend Mut gesammelt hatte, um sich ihr anzuschließen, und kaum war sie dort, verging sie
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