Jones, Diana Wynne
zähle bis zehn, dann erwürge ich sie. Eins… zwei…«
Mitt sah, dass es Al ernst war. Er sah auch, dass Hildy sich zu sehr fürchtete, um den Namen auszusprechen, den er ihr aufgeschrieben hatte. Er sah, wie Benk Al die Tür freimachte. Er sah, dass Ynen ihn hilflos anstarrte.
»Vier«, sagte Al.
»Einen größeren Apfelbaum vielleicht?«, schlug Navis vor. »Mit schweren Äpfeln?« Mitt schaute ihn an. Navis war genauso angespannt und hilflos wie Ynen.
Wenn er Hildy so gern hat, warum verbirgt er es dann vor ihr?, fragte sich Mitt gereizt. Er sprach Libby Biers großen Namen aus, bevor Al ›fünf‹ sagen konnte. Dieser Name schallte und hallte wider, und nachdem Mitt ihn ausgesprochen hatte, erschien er noch ehrfurchtgebietender. Er schwoll in der kleinen Kabine an.
Mit dem, was dann passierte, hatte Mitt nicht gerechnet. Ein Stoß erschütterte die Weizengarbe vom Bug bis zum Heck, als wäre sie auf einen Felsen gelaufen. Alles torkelte. Ein lautes Krachen folgte, und etwas zerriss. Kaum hörte es Benk, als er herumfuhr und aus der Kabine stürzte. Die beiden Wächter folgten ihm eilig. Ynen und Navis schleppten sie mit sich. »Was ist denn?«, fragte Lithar und schlenderte an Mitt vorbei hinaus, wobei der Baum an seinem Knie von einer Seite auf die andere schlenkerte. Mitt jedoch hatte keine andere Wahl, als zu bleiben, wo er war, denn Al hielt Hildy weiterhin beim Arm gepackt, obwohl er sich mit der anderen Hand am Tisch festhalten musste.
Wieder krachte es laut, dann hörten sie Planken bersten und zersplittern. Das Schiffsheck mit der Kabine kippte zur Seite, und Mitt packte die Tür, sonst wäre er umgefallen.
»Das Schiff zerbricht!«, brüllte er durch den Lärm Al an. »Lass sie los!«
Al hatte wohl vergessen, dass er Hildy erwürgen wollte. Er schleppte sie zur Tür und starrte hinaus. Ein Mast, groß wie ein Baum, krachte mitsamt Wanten und Segeln und Tauwerk auf ihr Ende des Schiffes, und er, Hildy und Mitt sprangen erschrocken zurück. Die Decke über ihnen begann sich unter dem Gewicht des Mastes durchzubiegen. Mitt ergriff Hildys anderen Arm, und Hildy riss sich von Al los, der sie wie betäubt entkommen ließ. Mitt und Hildy hasteten aus der Kabine. Während sie über das zerstörte Deck eilten, bot sich ihnen ein unfassbarer Anblick.
Durch die Mitte des Schiffes erhob sich eine Insel, ein nasser, glänzender Buckel, bedeckt mit Tang und Muscheln, der stank wie der Holander Hafen an einem heißen Tag, und er wuchs beständig weiter. Navis, Lithar, Benk und die Wächter standen auf der Kuppe und stiegen mit dem Buckel weiter und weiter in die Höhe. Ynen rutschte näher. Er wirkte verschüchtert. Starr vor Ehrfurcht, blickte Mitt um sich. Die arme Weizengarbe lag, in zwei zerschmetternde Hälften zerbrochen, an den gegenüberliegenden Ufern des neuen Eilands. Das Wachstum der Insel schuf eine Strömung und starken Seegang. Ein Ring aus Booten, in denen die Mannschaft saß und zusah, schaukelte auf den Wellen. Weiter draußen schwankte der Mast der Straße des Windes hin und her.
»Was geschieht denn hier?«, fragte Ynen. »Hildy, was hat er getan?«
Auf dem nassen Buckel blühte schon Gras. Zuerst sprossen vereinzelte, weit voneinander entfernte Halme, aber es wurde genauso schnell dichter, wie die Apfelbäume gewachsen waren. Der schlammige Boden grünte schon, während er sich noch ausbreitete. Auch auf den Planken der Weizengarbe schien Gras zu wachsen.
Navis brüllte auf und deutete auf etwas. Mitt und Hildy fuhren herum und sahen Al dicht hinter sich; er versuchte, sie zu packen. Hildy warf sich zur einen, Mitt zur anderen Seite; mit einem nassen Schmatzen, das ihn unangenehm an die Gräben vor dem Westbecken erinnerte, landete er auf dem Hosenboden. Al packte statt seiner Ynen und zerrte ihn am Bein den schlammigen Hang hinunter. Noch immer hielt Al die Büchse in der Hand. Ynen hob zur Abwehr nutzlos den Arm.
»Hildy! Hilf mir!«
»Mitt!«, schrie Hildy und wies auf ihren Bruder. Sie wollte nur rufen, dass Ynen in Gefahr schwebe, doch vor Entsetzen stotterte sie. »Yn-ynen!«
Das raue Wasser rings um die neue Insel bäumte sich zu einer Spitze auf. Wie ein riesiger Flügel aus Wasser peitschte es über Al und Ynen hinweg und riss sie beide von den Füßen. Hobins Büchse wurde gegen Mitt geschleudert. Er hatte kaum Zeit, sie aufzuheben, dann lag die neue Insel in einem gewaltigen Gewittersturm, der das Wasser aufrührte. Riesige gelbe Brecher krachten auf die Überreste der
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