Jorina – Die Jade-Hexe
mich in Frieden!«
Er wandte sich ab, streckte sich auf seinem Blätterlager aus und drehte ihr den Rücken zu. Jorina ballte die Fäuste, damit sie nicht in Versuchung geriet, ihm Vernunft einzuprügeln. Seit die Schwellung an seinem Kopf zurückging und sich die Wunde an seiner Schulter schloss, wurde er von Tag zu Tag unwirscher und unleidlicher.
»Wenn ich Euch in Frieden lassen soll, dann müsst Ihr mir schon einen Grund dafür nennen, den ich verstehen kann!« plagte sie ihn von Neuem. »Wollt Ihr etwa Eurem Anführer in falsch verstandener Vasallentreue in den Tod folgen, weil Ihr es nicht ertragen könnt, dass Jean de Montfort unser neuer Herzog ist?«
Unbeabsichtigt hatte sie genau ins Schwarze getroffen. Sie konnte es an dem kaum sichtbaren Zusammenzucken erkennen, an der Art, wie sich seine Halsmuskeln anspannten.
»Antwortet mir!« drängte sie.
»Hölle und Verdammnis!«
Er fuhr wieder herum und warf ihr jenen mörderischen Blick aus funkelnd grünen Augen zu, den seine Männer gefürchtet hatten. Bei Jorina zeigte er keine Wirkung. Raoul wusste nicht, ob sie dafür zu harmlos oder zu klug war. Instinktiv tippte er auf zu klug. Dieses Waldmädchen bot mehr Überraschungen, als ein lombardischer Bankier Goldstücke in seinen Truhen hatte.
»Das ist keine Antwort, sondern ein Fluch«, entgegnete sie ohne eine Spur von Verlegenheit. »Wenn Ihr mich fragt, für die Bauern und das einfache Volk ist’s ohnehin egal, wer regiert. Für sie zählt nur, dass sie ihre Felder bestellen und ihre Straßen benutzen können, ohne vor streunenden Söldnern Angst haben zu müssen. Außerdem ist der neue Herzog immerhin der Bruder unseres verstorbenen Herrn; was habt Ihr also gegen ihn?«
»Gütiger Himmel!« Raoul de Nadier strich sich mit gespreizten Fingern die ungebärdigen Haare aus der Stirn, die sich wieder lockten, seit er sie und sich selbst an der Quelle gewaschen hatte. »Genauso gut könnte ich dir antworten, dass Karl von Blois das Recht auf seiner Seite hatte, weil er mit einer Nichte des verstorbenen Herzogs verheiratet war. Was mich betrifft, so werfe ich mir die Umstände vor, unter denen Jean de Montfort vor Auray den Sieg erfochten hat!«
»Die Umstände?« wiederholte Jorina verblüfft. »Die verlorene Schlacht? Die Plünderung von Auray, die unschuldigen Opfer?«
»Den Verrat!« entgegnete der Ritter hart. »Und nun lass mich in Frieden. Ich will weder essen noch trinken noch reden ...«
Es überraschte ihn selbst am allermeisten, dass Jorina diese Abfuhr akzeptierte. Sie bedachte ihn mit einem langen schweigenden Blick aus ihren hellen Augen, stellte den Korb zur Seite, erhob sich und verließ den Unterschlupf. Es kam ihm vor, als habe sie das Licht und die Wärme mit sich genommen.
Er streckte die Hand aus, um sie aufzuhalten, und fluchte leise, als ihm klar wurde, was er da tat. Je eher sie fortging, um so besser war es für sie beide. Mit jedem Atemzug wurde er abhängiger von ihrer Anwesenheit, ihrer Stimme und ihrer Fürsorge.
Jorina sah den wohlgenährten Hasen unter dem Erlengebüsch sitzen, aber sie konnte sich nicht überwinden, nach der primitiven Schleuder zu greifen, die ihr sonst so gute Dienste leistete. Es kam öfter vor, dass der Ritter sie fortschickte, aber noch nie hatte er es so wütend, so endgültig wie an diesem Tag getan. Sie hatte sich, von einem Paar edelsteinfarbener Augen verführt, darangemacht, ihn zu retten, nur um jetzt feststellen zu müssen, dass er gar nicht gerettet werden wollte.
Der Hase äugte besorgt in ihre Richtung und entschied sich, das Weite zu suchen. Jorina sah ihm nach, während sie darauf wartete, dass sich ihre Unruhe wie üblich durch den tiefen Frieden des Waldes löste. Sie versuchte, ihren Kopf von allen Gedanken freizumachen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Zum ersten Male fragte sie sich, was der wirkliche Grund war, weshalb sie nicht von der Seite des jungen Ritters weichen wollte.
»Du wünschst dir, dass er Gefallen an dir findet, nicht wahr?« fragte sie sich selbst. »Du möchtest, dass er dich wieder mit jenem Blick ansieht, der dich in Auray in den Tiefen deiner Seele getroffen und für immer gezeichnet hat!«
Sie spürte das Rasen ihres Herzens, als wäre sie zu weit und zu schnell gerannt. Sie hatte eine unsichtbare Grenze überschritten und bereute es bereits wieder, denn dahinter konnten nur Demütigung, Schmerz und Einsamkeit warten.
Sie ballte die Fäuste, dass sich die Fingernägel schmerzhaft in ihre Handballen
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