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Jorina – Die Jade-Hexe

Jorina – Die Jade-Hexe

Titel: Jorina – Die Jade-Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cordonnier
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drückten. Dann öffnete sie die Hände und betrachtete sie mit finsterer Gründlichkeit. Die Hände einer Frau, die Wurzeln ausgrub, Tiere tötete, sie abbalgte, ausnahm und Feuerholz brach. Die Hände einer Magd, nicht die eines Edelfräuleins. Das musste sie akzeptieren.
    Er ist ein Edelmann! rief sie sich bitter in Erinnerung. Wenn er sich für ein Mädchen erwärmt, dann muss es von nobelstem Blut sein und über eine hochherrschaftliche Mitgift verfügen. So ist die Ordnung dieser Welt, willst du sie ändern, nur weil sie dir missfällt?
    Der Wald um sie herum schwieg; und Jorina ließ die Hände wieder sinken. Es war an der Zeit, vernünftig zu werden. Die Tochter einer Kräuterfrau hatte kein Recht auf dumme Träume. Wenn sie überleben wollte, durfte sie nicht zulassen, dass sie sich in diesen bedrohlichen Gefühlen verlor, die ihr den Verstand vernebelten. Sie hatte Angst vor dem, was sie zu tun bereit war, wenn sie wirklich die Kontrolle über sich selbst verlor.
    Sie nestelte die Schleuder aus dem Rockbund und ging in die Richtung, in der der Hase verschwunden war. Vielleicht konnte sie ja wenigstens diesen Fehler wiedergutmachen.
    Als Raoul de Nadier bemerkte, dass die Dämmerung hereinbrach, begann er sich Sorgen um Jorina zu machen. Wo steckte das Mädchen? Er hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass sie zurückkommen würde, auch wenn er sie fortschickte. Sie würde ihn nicht wirklich im Stich lassen – oder doch? Hatte er dieses Mal den Bogen überspannt, sie zu sehr verletzt?
    Die Schatten wurden länger. Der Sonnenfleck auf der Quelle erlosch, und eine leise Brise bewegte die letzten Blätter an den Bäumen. Das leise Rauschen mischte sich unter das drängende Plätschern des Wassers, das so voller Energie aus der Erde schoss, als wäre ihm dort alles zu eng und zu dunkel. Raoul stand auf, beugte den Kopf und trat unter dem Felsen hervor, damit er einen suchenden Blick in die Runde werfen konnte. Weit und breit kein Zeichen von Jorina. Nun hatte er die ungestörte Ruhe, nach der er sich sehnte, und nun kam es ihm vor, als könne er sie keinen Atemzug länger ertragen.
    Er wandte sich um und suchte nach den Schuhen des verblichenen Edwy. Mit einem Fluch krümmte er seine Zehen und dachte sehnsüchtig an die glänzenden Stiefel aus spanischem Leder, die er noch vor Kurzem in schöner Selbstverständlichkeit getragen hatte. Inzwischen konnte er von Glück sagen, dass er mit einer Gefährtin gesegnet war, die sich nicht gescheut hatte, einem Toten die Schuhe abzunehmen. Wie sich die Zeiten doch änderten!
    Das letzte Tageslicht verglühte in kleinen Funken auf dem plätschernden Wasser, aber Jorina blieb verschwunden. In einer sorgsam ausgehobenen Kuhle neben dem Felsen simmerte unter einer dicken Schicht Holzkohle der Rest Glut, den sie nie ausgehen ließ. Er starrte auf das kaum wahrnehmbare rötliche Leuchten und unterdrückte den verrückten Impuls, lauthals nach Jorina zu rufen.
    Ob ihr etwas zugestoßen war? Sie hatten keine Ahnung, ob sich das Lager der Straßenräuber irgendwo in ihrer Nähe befand, aber es gab auch andere tödliche Gefahren für eine junge Frau, die alleine durch den Wald spazierte. Was, wenn sie in eine Falle geraten, in einen Abgrund gestürzt oder von einem wilden Tier angefallen worden war?
    Das Bild einer verletzten, blutüberströmten Jorina tauchte vor seinen Augen auf. Er konnte nicht einfach hier stehen bleiben und die Bäume anstarren. Sie hatte sich das Recht darauf erworben, dass er sich um sie kümmerte und nach ihr sah!
    Zunächst folgte er vorsichtig dem klaren Wasserlauf, der ihm auch in der schnell zunehmenden Dunkelheit eine gewisse Orientierung versprach. Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung Jorina gelaufen war, er konnte nur seinem Instinkt vertrauen und hoffen, dass vielleicht auch das Mädchen das Wasser als Wegmarke verwendete.
    Im Kampf gegen seine bösen Ahnungen erinnerte er sich bewusst an die Geschicklichkeit, mit der sie ihre Schleuder gebaut hatte und nun gebrauchte, an ihre erstaunliche Fähigkeit, sie beide nicht nur mit Nahrung zu versorgen, sondern diese Beute auch noch in schmackhafte Gerichte zu verwandeln. Vielleicht sorgte er sich völlig umsonst um sie. Vielleicht war es nur sein schlechtes Gewissen, das ihn vorwärtstrieb ...
    Der stille Wald umschloss ihn wie ein Umhang aus duftendem Halbdunkel. Kiefernharz, Kräuter, Moos und sterbende Blätter verliehen im Verein mit der Frische des Wassers der Luft ein balsamisches Aroma.

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