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Josef und Li: Roman (German Edition)

Josef und Li: Roman (German Edition)

Titel: Josef und Li: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Vovsova
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sah ihren Vater jeden zweiten Sonntag in seinem neuen Zuhause, wo er mit seiner neuen Frau lebte.
    Als die Dämmerung hereinbrach, beschloss Helena, nicht länger auf Josef zu warten. Sie ging aber nicht gleich nach Hause, sondern machte einen Umweg über die Bělohorská-Straße, vorbei an Dřinopol, und kam rein zufällig an der Straße vorbei, in der Josef wohnte.
    Sie verlangsamte ihren Schritt am Haus mit der Aufschrift Zur Lustigen Teh Cann und blickte unauffällig in die Fenster im Erdgeschoss. Es wurde zwar noch kein Tee angeboten, doch Helena musste eingestehen, dass während der letzten paar Stunden die Arbeiten in der Teestube schnell vorangegangen waren.
    Die Nguyens hatten zusammen mit Tuong die Wände gestrichen. Sie waren jetzt hellblau mit lindgrünen und gelben Streifen. An der Decke hingen Papierlaternen und der Dielenboden wurde von den über die Jahre angesammelten Ablagerungen befreit, sodass die ausgetretenen Bretter jetzt wie neu aussahen. Von Josef war aber keine Spur zu sehen.
    Sie lief durch die Durchfahrt in den Hof, wo sie sich hinter dem Mauervorsprung unter der Treppe versteckte. Von hier konnte sie in die Fenster der Schreinerei und der Polsterwerkstatt blicken. Und dort entdeckte sie Josef.
    Frau Kličková bezog gerade ein Sofa und Josef reichte ihr die Polsternägel. Zumindest sah es von dort so aus und Helena war froh, dass Josef zu Hause half und nicht bei den Nguyens. Doch dann fiel ihr auf, dass Frau Kličková und Josef gar nichts bezogen, dass sie nur wie in Stein gemeißelt dastanden und irgendwohin in die Leere starrten.
    Frau Kličková dachte wahrscheinlich daran, dass sich in den letzten Tagen, seit Marta bei ihnen wohnte, Herr Klička verändert hatte, und sie kam sich ein wenig abgeschrieben und unglücklich vor. Und Josef konnte das, ohne zu wissen wie, spüren und war deshalb auch ein wenig traurig.
    Wäre er Frau Kličkovás Schwester oder Freundin, würde er ihr am ehesten raten, vielleicht doch eine schönere Hose anzuziehen, zum Friseur zu gehen oder sich die Lippen anzumalen. Doch Josef war weder ihre Schwester noch eine Freundin und Frau Kličková gefiel ihm so, wie sie war. Und so stand er da, sagte nichts und starrte durchs Fenster in den Hof und es schien ihm gar nicht bewusst zu sein, dass er geradewegs in Lis Zimmer blickte.
    Dafür sah es aber Helena ganz genau. Und zu alledem saß Li am Fenster und kratzte den abblätternden Lack von den Fensterrahmen. Helenas Blick sprang eine Weile von einem Fenster zu anderen hin und her, wie ein Ping-Pong-Ball … Und dann drehte sie sich um und lief aus dem Hof hinaus.
    Am Abend konnte Josef nicht einschlafen. Viele Stunden wälzte er sich im Bett umher, und es half weder das Zählen der Schafe noch das Aufsagen aller Länder, Meere, Flüsse und Gebirge der ganzen Welt, die er sich im Geist vorstellte.
    Als die Turmuhr Mitternacht geschlagen hatte und Herr Klička und Marta noch nicht zurück waren, stand er auf, ging ins Bad und trank einen Schluck Wasser. Dann blieb er im Flur bei der angefangenen Schachpartie stehen und bewegte seinen Turm so, dass er den König des Vaters gefährdete.
    »Schach, Papa!«, sagte Josef leise und auch ein wenig drohend. Danach kehrte er in sein Zimmer zurück und schaute
in den Hof hinaus. In einem Fenster im Erdgeschoss brannte noch Licht. Es war das Fenster zu Lis Zimmer.
    Vermutlich konnte auch Li nicht schlafen. Josef sah, wie sie am Tisch saß und im Schein einer kleinen Lampe etwas las. Hätte er ein Fernrohr bei der Hand gehabt, hätte er sehen können, wie sie in ein tschechisch-vietnamesisches Wörterbuch vertieft war. Sie war gerade beim Buchstaben A. Das bedeutete, sie kannte bereits Wörter wie Abt, Akazie, Amulett, Anchovi und Asbest.
    Noch bevor Josef doch noch sein Fernrohr holen konnte, fiel das schwere Eisentor ins Schloss und Marta und der Vater traten in die Durchfahrt. Offenkundig haben sie nicht nur ein Bier getrunken, wie sie später behaupteten, sondern mindestens drei. Sie torkelten ein bisschen und riefen einander fröhlich etwas zu.
    Im Flur zogen sie sich die Schuhe aus und versuchten dabei so leise wie möglich zu sein. Aber Marta stolperte ungeschickt über das Tischchen mit der angefangenen Schachpartie und Josef sah durch den Türspalt, wie die Figuren durch die Gegend flogen. Marta bemühte sich gleich darauf, sie irgendwie wieder auf dem Schachbrett zu verteilen.
    »Nicht so, das merkt er doch«, flüsterte Herr Klička und versuchte sich zu erinnern,

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