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Josef und Li: Roman (German Edition)

Josef und Li: Roman (German Edition)

Titel: Josef und Li: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Vovsova
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gesehen und warf Marta gleich ihren dicken Pulli über. Es war Oktober und Marta hätte sich erkälten können!
    Damit es keine Missverständnisse gab: Der Hungerturm war in Wirklichkeit Josefs Zimmer, das je nach Umständen einen anderen Namen bekam.
    Manchmal verwandelte es sich in ein U-Boot, ein anderes Mal in ein Raumschiff oder in eine Forschungsstation. Das war der Fall, wenn Josef seine Hausaufgaben machte oder eine Landkarte studierte.
    An diesem Abend aber verwandelte es sich in einen Hungerturm und Frau Kličková schmuggelte ihm doch noch ein Abendessen hinein. Es war zwar nur trockener Reis übrig geblieben, Josef schmeckte er aber dennoch. Statt des Bestecks aß er den Reis mit zwei Stäbchen, genau genommen mit zwei Stiften, und er tat so, als ob er in einer asiatischen Stadt wäre.
    Vom Hof drang vietnamesische Musik bis in sein Zimmer und im erleuchteten Fenster unten im Erdgeschoss konnte er Herrn und Frau Nguyen sehen, wie sie am Tisch saßen und etwas besprachen. Er sah auch Li Nguyen, wie sie den Käfig ihres Papageis sauber machte. Der saß auf ihrem Kopf und dann flog er zu Herrn Nguyen und setzte sich auf seinen Kopf. Er musste allerdings auf ihm herumgehackt haben, denn Josef sah, wie Herr Nguyen dem Papagei drohte und ihn zurück in den Käfig steckte.
    Die Nguyens hatten noch keine Vorhänge, daher konnte man gut in ihre Wohnung sehen. Josef gefiel am meisten Lis Zimmer, das fast vollkommen weiß war und bis auf ein Bett, einen Schreibtisch, einen Stuhl und ein paar Gemüsekisten fast ganz leer war. Li hatte die Kisten blau angestrichen und nun standen Bücher, Puppen und ein Wecker auf ihnen.
    Josef dachte sich, er könnte auch einmal sein Zimmer so schön aufräumen, doch dann vergaß er den Einfall ganz schnell wieder.
    Er machte sich lieber Gedanken, wie er Lis Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte. Bis jetzt waren seine Versuche nicht gerade von Erfolg gekrönt.
    Und dabei hatte er ihr wie aus Versehen zweimal das Bein gestellt, wie durch Zufall einen Eimer Wasser aus dem Fenster geschüttet, als sie gerade im Hof stand, und jede freie Minute dort unten vor den Fenstern der Nguyens verbracht, während er Olík das Fußballspielen beibrachte. Er konnte sich noch so abmühen, auf sich aufmerksam zu machen, doch Li tat so, als ob er Luft für sie wäre.
    Und dann war er doch sehr überrascht, als ihm Vendula am nächsten Tag einen wohlriechenden rosafarbigen Umschlag überreichte, auf dem stand: Sehr geehrte Herr Klička.
    Vendula wollte unbedingt auch wissen, wer Josef das Schreiben in den Briefkasten gesteckt hatte, und so zerrten beide daran, bis es Josef endlich gelang, Vendula den Brief zu entreißen und sich damit in seinem Zimmer einzuschließen.
    Als er das Schreiben herausnahm, traute er seinen Augen nicht. In Schönschrift stand dort: Liebe Josef, will ich dich sehen in Park. In drei Uhr. In See. Dein L. Das hatte er wirklich nicht erwartet.
    Im Eifer des Gefechts spritzte er sich Herrn Kličkas Rasierwasser ins Gesicht, das heißt, er dachte, es wäre Rasierwasser, aber in Wirklichkeit war es ein Wässerchen zur Behandlung von Bindehautentzündung, und stürzte aus dem Haus.
    Es war genau zwei Minuten vor drei. Auf dem Weg gesellte sich Olík zu ihm und Josef musste zugeben, dass er trotz seiner Körperfülle noch ordentlich Gas geben konnte.
    Er kam Punkt drei Uhr am See an. Doch bis auf ein paar Enten, die gerade auf der Wasseroberfläche gelandet waren, befand sich keine Menschenseele dort. Es ging ein starker Wind, der die Äste hin und her wiegte, und der Himmel war grau und kalt. Wer hätte gedacht, dass noch gestern die Hitze des Altweibersommers alles in der staubigen Luft flirren ließ?
    Josef warf Olík aus Langeweile Stöckchen zu, und der brachte sie nicht zurück, während im ganzen Park der Wind brauste und sauste. Es war daher kein Wunder, dass Josef und Olík nicht hörten, wie sich jemand von hinten näherte. Und
kurz darauf legte jemand die Hände vor Josefs Augen. Es waren kleine weiche Hände.
    »Sin tschau«, sagte eine dünne Stimme. Und Josef antwortete: »Sin tschau.«
    Als er sich jedoch umdrehte, stand nicht Li vor ihm, sondern Helena Bajerová. Sie zog sich mit den Fingern die Augenlider schräg nach oben, bis ihre Augen nur noch schmale Striche waren, und prustete vor Lachen.
    »Na, bin ich nicht eine gute Schauspielerin? Du hast den Köder samt Haken geschluckt!«
    Noch bevor Josef antworten konnte – er war wirklich sehr überrascht und zudem

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