Josef und Li: Roman (German Edition)
und ein Geschenk ihrer Oma, als sie noch klein war und die Oma noch lebte. Und Helena kam sich beiseitegeschoben vor, wie eine Spielfigur aus Mensch ärgere dich nicht.
»Ich habe Bauchweh. Darf ich auf die Toilette?«, fragte Helena nach einer Weile und die Frau Lehrerin nickte. Und wenn sie am Sterben wäre, so hätte die Frau Lehrerin auch das abgenickt und hätte sie gar nicht weiter beachtet.
Aber Helena starb nicht und ging auch nicht auf die Toilette. Stattdessen lief sie die Treppe hinunter ins Vestibül und bog zur Garderobe ab. Es war niemand zu sehen, und so überlegte sie nicht lange und stieß mit einem heftigen Ruck die Drahttür der Umkleide der 5a auf.
Lis Mantel hing neben Josefs Jacke. Und ihre beiden Paar Schuhe standen dicht beieinander. Gedankenverloren betrachtete Helena eine Weile die Schuhe. Besonders die von Li. Es waren so grauenhafte kleine Lackschuhe mit einer Schleife. Und dann ging der Pausengong und Helena hörte auf zu überlegen. Sie schnappte sich Lis Schuhe, steckte sie in ihre Tasche und lief aus der Umkleide hinaus.
Später suchte Li vergeblich nach ihnen. Aber niemand half
ihr. Auch Josef nicht. Denn jemand hatte aus dem Fenster geschaut und »Es schneit!« gerufen. Und im Nu war die Garderobe wie leergefegt.
Im Laufe des Nachmittags, den die Kinder in der Schule verbracht hatten, war es merklich kühler geworden, und am Himmel hingen bauchige Wolken, plump und träge wie eine Viehherde. Der Nordwind jagte sie vorwärts, sodass diese Wolken aufeinanderprallten und an der Stelle, wo die Fronten zusammenstießen, Schnee herausfiel.
Als die Kinder aus der Schule stürzten und die ersten Schneeflocken auf sie niederfielen, wurden sie von einer überwältigenden Seligkeit erfasst.
Einige breiteten die Arme aus und fingen an, durch das flimmernde, milchfarbige Netz hin und her zu laufen und allen schreiend mitzuteilen, dass es schneit, was natürlich völlig überflüssig war, denn das konnte doch jeder sehen, aber sie wussten sich eben nicht anders zu helfen.
Die anderen standen nur herum und ließen sich von dicken Schneeflocken benetzen. Máchal stand auch da und hatte zudem den Kopf nach hinten geneigt und die weichen Flocken fielen direkt in seinen Mund, als ob es irgendwelche ausgewählten Leckereien wären.
Josef, Šíša und Hnízdil liefen zunächst hin und her, schrien »Es schneit!«, standen dann einfach da und es schien, als wäre alles wieder beim Alten.
Hnízdil fragte Josef nämlich, ob er mit ihnen am Abend am Nikolausumzug mitmachen würde, und Josef sagte ja. Er wollte sich mit Šíša wieder als Krampus verkleiden, aber dieses
Jahr könne er ihm seinen Pelz nicht leihen, weil ihn die Motten aufgefressen hätten. Und Máchal sagte, dass er als Nikolaus gehen würde und Hnízdil als Engel.
Doch dann hörten sie von hinten: »Hnízdil geht nicht als Engel, weil ich als Engel gehen werde.« Es war Helena Bajerová. Und dann sagte sie noch, sie bräuchten keine zwei Krampusse, Josef solle doch den Krampus ihretwegen in der Hölle spielen.
Die Jungs ließen die Köpfe hängen, am meisten Šíša, doch schließlich stimmten sie zu und marschierten hinter Helena ab.
Aber sie waren auch ein bisschen froh. So wussten sie jetzt ganz sicher, dass ihnen Helena ihre ungerechte Verleumdung vergeben hatte. Denn jemanden ungerecht zu verleumden ist genauso schlimm, wenn nicht schlimmer, als selbst zu Unrecht verleumdet zu werden.
»Soll er doch den Krampus mit der kleinen Hosenscheißerin da geben!«, rief Helena noch einmal und deutete mit dem Kopf auf Li, die an der Schwelle der Schultür stand, ohne Schuhe, nur in Hausschuhen aus dünnem chinesischen Stoff, und sich nicht überwinden konnte, den ersten Schritt in den Schnee zu machen.
Li hatte noch nie zuvor Schnee gesehen und war auch noch nie ohne Schuhe auf der Straße. Aber als sie sah, wie ihr Helena spöttische Blicke zuwarf, überwand sie sich doch und trat aus der Schule. Nach ein paar Schritten waren ihre Füße wie tiefgekühlte Crevetten, doch sie ging tapfer weiter und zählte im Geist bis einundzwanzig.
Erst als die Jungs mit Helena endgültig um die Ecke bogen
und definitiv klar war, dass nichts mehr wie früher werden würde, erinnerte sich Josef wieder an Li und lief mit Olík zu ihr.
»Wo sind deine Schuhe?«, fragte er sie, aber Li schwieg eisern und watete weiter durch den Matsch des bereits angetauten Schnees.
Sie wollte schon zu Hause sein, in ihrem kleinen Zimmer, niemanden sehen, niemanden
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