Josef und Li: Roman (German Edition)
auch ohne Aufsagen«, sagte Helena lächelnd und hielt Li die Hand mit dem Geschenk entgegen. Li nahm es aber nicht an und so ließ Helena das Päckchen auf den Boden plumpsen.
Zwei leuchtend rote Fische kamen aus dem Päckchen zum Vorschein. So sah es im Dunkeln auf den ersten Blick aus. Als
ob eine Welle sie in die eiskalte Straße angespült hätte. In Wirklichkeit waren es aber Lis Schuhe mit den Schleifen.
»Und ihr? Habt ihr auch ein Geschenk für uns?«, fragte Helena und gab gleich darauf Hnízdil ein Zeichen. Der sprang auf Li zu, riss ihr den Korb aus der Hand und rief: »Na klar, die haben viele Geschenke für uns! Wir müssen echt sehr brav gewesen sein!« Und jetzt war auch Josef klargeworden, dass kein Wunder geschehen und alles nur Schall und Rauch war.
Helena schüttete den Inhalt aus Lis Korb in ihren, während Máchal, Hnízdil und Šíša Josef in der Zange hielten.
»Vielen Dank, Engel! Und wir versprechen dir, ganz furchtbar brav zu sein!«, rief Helena und einen Augenblick später wirbelte sie den Jungs hinterher auf der Břevnov-Straße in Richtung Dlabačov.
Li sammelte ihre Schuhe vom Boden auf und Josef fühlte sich wieder hundeelend. Aber diesmal schaute Li ihn überhaupt nicht angewidert, vorwurfsvoll oder enttäuscht an. Im Gegenteil, sie lächelte ihm zu, es war aber nicht dieses Engelslächeln wie von Helena vorhin. Sie sagte, dass es höchste Zeit für eine Lektion wäre.
Gleich am nächsten Nachmittag fand auf der schneebedeckten Wiese im Park die erste Stunde statt. Eine Lehrstunde in Kampfkunst. Tuong war der Lehrer und Josef der Schüler. Aber zunächst sah es so aus, als ob Josef eine Strohpuppe wäre, die Tuong hin und her warf. Allerdings fiel Josef wie ein schwerer Sack zu Boden und nicht wie eine Puppe.
Li saß auf einer Bank und beobachtete alles genau. Josef tat ihr leid, aber sie ließ sich nichts anmerken, und immer
wenn Josef aus besonders großer Höhe zu Boden fiel, tat sie so, als ob sie die Wolken am Himmel beobachten, sich die Schnürsenkel binden oder etwas mit der Fußspitze in den Schnee zeichnen würde.
Tuong zeigte Josef alle möglichen Griffe und Angriffspositionen, stieß dabei wilde Schreie aus und schnitt Grimassen, was Josef zunächst sehr lustig vorkam, doch dann hatte er weniger zu lachen, denn er wand sich am Boden und sein ganzer Körper schmerzte.
Li hatte schon alle Wolken am Himmel studiert – es herrschte Windstille und sie wälzten sich in unmerklichem Tempo vorwärts, wie riesige Schnecken oder verlangsamte Walfische – und Josef fiel immer wieder zu Boden, und es schien, als hätte er in den zwei Stunden überhaupt keine Fortschritte gemacht.
Tuong hatte kein Mitleid mit ihm und schleuderte ihn weiterhin wie eine Strohpuppe umher. Als er ein kleiner Junge war, sprang sein Lehrer Tran auch so mit ihm um. Allerdings fiel Tuong damals nicht auf vereiste Krusten, sondern in weichen, von der Sonne aufgeheizten Seetang, den das Meer an den Strand gespuckt hatte.
In seine Haut bohrten sich Sandkörner und von der Brandung zermalmte Muschelstücke, die zwar nach einer Weile von selbst abfielen oder von Tuong weggeklopft wurden, aber seine Großmutter wusste anhand der Grübchen und Abdrücke an den Armen und am Rücken trotzdem, dass er am Strand gewesen war.
Tuong konnte zu der Zeit noch nicht schwimmen, und so durfte er nur zu jenem Uferabschnitt, der die Stadt vom Meer
trennte. Sollte eine große Welle kommen oder eine unerwartete Flut, wären seine Kampfkünste in den Tiefen des Meeres zu nichts nutze, warnte ihn die Großmutter.
Jedes Mal musste er ihr versprechen, sich an das Verbot zu halten. Aber sobald er unten am Strand den Lehrer mit einem Haufen Jungs beim Training sah, konnte ihn nichts bremsen und binnen kurzer Zeit schwebte er über dem Kopf des Lehrers. Zum Glück rollte keine Welle heran. Zudem lernte er noch in jenem Sommer schwimmen. Und so wurde er im Viertel der jüngste Champion in der Kampfkunst.
Aber jetzt sah es so aus, als ob eine solche Welle doch noch angerollt kam, in den Park mitten in Prag. Sobald Tuong sie bemerkte, knickten seine Knie vollkommen ein, er hörte auf Grimassen zu schneiden und bedrohliche Laute von sich zu geben.
Die Welle, die Tuong ablenkte, war in Wirklichkeit Marta. Seit dem frühen Morgen war sie in den Straßen unterwegs und bot den Leuten ihre Weihnachtsdekorationen an. Sie waren in einer großen Schachtel angeordnet, die sich Marta wie einen Bauchladen vor den Körper geschnallt
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